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WALTHER RATHENAU
GESAMMELTE SCHRIFTEK
IN FÜNF BÄNDEN
Erster Band
A 19 18
S. FISCHER . VERLAG • BERLIN
Erste bis vierte Auflage.
Alle Rechte vorbehalten, besonders das der Übersetzung.
Copyright S. Fischer, Verlag.
ZUR KRITIK DER ZEIT
AN GERHART HAUPTMANN
Deinen Namen schreibe ich auf die erste Seite
dieses Buches. Du weißt, ich habe gezögert^
es zu veröffentlichen, weil zweierlei mir fehlt:
die Ausführlichkeit, die der Leser von Betrach-
tungen verlangt, und die Überredungskunst des
dialektischen Beweises, die ich nicht achte. Ich
glaube, daß jeder klare Gedanke den Stempel der
Wahrheit oder des Irrtums auf der Stirn trägt.
Dir, Gerhart, habe ich stets geglaubt, ohne Beweis
und ohne Umschweif. Nimm dies Buch als Zeichen
der Dankbarkeit, die ich als Deutscher dem Dichter
unsres Zeitalters schulde, und als Gabe herzlicher
Freundschaft.
DAS PROBLEM
Durch die Mitte des vergangenen Jahr-
hunderts geht ein Schnitt. Jenseits liegt
alte Zeit, altmodische Kultur, geschicht-
liche Vergangenheit, diesseits sind unsere Väter
und wir, Neuzeit, Gegenwart. Das ist nicht etwa
eine Täuschung des rückwärts gewandten Blickes,
nicht eine Erscheinung, die jedem sich besinnenden
Geschlecht begegnet : denn wir können die Zeitpunkte
bestimmen, wo das neue Wesen sich vom alten
sondert. Freilich nicht auf ein Jahr oder ein Jahr-
zehnt genau; denn wie sollte eine Kulturgrenze
sich als scharfkantige Bruchfläche darstellen ? Viel-
mehr weist sie, aus geringer Entfernung betrachtet,
ein Bündel von Splitterungen auf, die jede einzelne
Faser des Gesamtlebens je an andrer Stelle treffen.
-So können wir sagen, wann man begonnen hat,
ein neues Deutsch, Zeitungsdeutsch, Abhandlungs-
deutsch, Geschäftsdeutsch zu reden und zu schreiben,
wann die humanistische Bildung von der historisch-
pragmatischen abgelöst wurde, wann die geschäftliche
Staatenpolitikbegann,wann die Weltstadtphänomene
sich erhoben, wann die faßbaren Ideale dem un-
bestimmten Sehnen unsrer Zeit gewichen sind.
Vollends erkennen wir diesseits der Epochen-
grenze, etwa seit Beginn der fünfziger Jahre, die
II
nicilt mehr unterbrochene Gleichförmigkeit eines
Zeitalters, das bis zu diesem Augenblick nur großen-
hafte Steigerungen und technische Verschiebungen
erlebt hat. Vor allem aber sind alle diesseitigen
Menschen uns als Zeitgenossen ohne Erläuterung
verständlich, indem wir ihre Sprache, Lebensauf-
fassung, Wünsche und Denkweise bis in die jüngste
Generation unsrer Stadtbürger hinein erhalten
und wiederholt finden. Unstet und gesellig, sprung-
haft, gedankenbegierig und sehnsüchtig, interessiert,
kritisch, strebend und hastend ist die Stimmung
nun schon des dritten Geschlechtes westlicher
Menschen.
Jenseits des Zeitalters jedoch, bis in die Anfänge
des abgelaufenen Jahrhunderts, erblicken wir die
Ausläufer des älteren Geschlechtes : seßhafte Men-
schen, die auf Ererbtem beruhen, von handge-
fertigten Werken umgeben, im Wechselkreis des
Herkommens ihr Leben erfüllend. Wollte man
meinen, der Gegensatz sei durch den Abstand ver-
größert, so genügt es, das flache Land oder die
Städte an der nördlichen und südlichen Grenze
unsres Sprachgebiets aufzusuchen, um wahrzu-
nehmen, daß trotz Zeitung, Eisenbahn, Industrie
und Politik ein altes, dem Großstädter fernes Deutsch-
land dort sich erhält und verteidigt. So wird man
in den alten Ortschaften Holsteins oder der Nord-
schweiz den Unterschied der Stände, die Gegen-
sätze der Berufe in Sprache, Gebaren und Gesichts-
zügen ausgeprägt finden, Beschaulichkeit der Denk-
weise, Handlichkeit des Ausdruckes, Festigkeit der
Überlieferung nicht vermissen. Wie denn über-
haupt in wundervollem Erhaltungstriebe die Erde
abseitig und oft in Schlupfwinkeln alles scheinbar
12
Vergangene, selbst das Entfernteste, uns aufbe-
wahrt hat, so daß alle zentrische Bildung von heute
zur peripherischen von morgen wird, und jeder
Schritt abseits vom Wege auch einen Schritt ab-
seits von der Zeit bedeutet.
Betrachtet man aber die zentrischen Gebilde
unsrer Zeit, so ist es zum zweiten Male merk-
würdig und fast erschreckend zu bemerken, wie
sehr diese Wesen trotz aller Verschiedenheit des
Himmelsstrichs, der Herkunft und Vergangenheit
einander gleichen.
In ihrer Struktur und Mechanik sind alle größeren
Städte der weißen Welt identisch. Im Mittel-
punkt eines Spinnwebes von Schienen gelagert,^
schießen sie ihre versteinernden Straßenfäden über
das Land. Sichtbare und unsichtbare Netze rollen-
den Verkehres durchziehen und unterwühlen die
Straßenschluchten und pumpen zweimal täglich
Menschenkörper von den Gliedern zum Herzen.
Ein zweites, drittes, viertes Netz verteilt Feuchtig-
keit, Wärme und Kraft, ein elektrisches Nerven-
bündel trägt die Schwingungen des Geistes. Nah-
rungs- und Reizstoffe gleiten auf Schienen und Was-
serflächen herbei, verbrauchte Materie entströmt
durch Kanäle. So ist denn das steinerne Bild,
auch im Schnitt betrachtet, allenthalben das gleiche :
Wabenzellen, mit geschmeidigen Stoffen, Papier,
Holz, Leder, Geweben ausgestattet, ordnen sich
reihenweise ; nach außen gestützt durch Eisen, Stein,
Glas und Zement. Ein wenig höher oder ein wenig
flacher getürmt, die Öffnungen etwas dichter oder
etwas weiter gestellt, durch senkrechte oder wage-
rechte Ritzungen und Schnörkel gegliedert, zeigen
die Straßenwände in allen Ländern den gleichen
13
Ausdruck. Nur im alten Inneren der Städte, wo in
Kirchen und Staatshäusern jahrhundertelang Seele
und Geist der Gemeinschaft wohnten, erhalten
sich noch Reste physiognomischer Sonderheiten
als fast erstorbene Schaustücke, während im Um-
kreis, gleichviel ob in der Richtung der Werkstätten,
der Wohnstätten oder der Ruhestätten das inter-
nationale Weltlager sich ausdehnt.
Nicht mindere Einförmigkeit begegnet im Gei-
stigen. Im täglichen und nächtlichen Spiel werfen
die Städte der Welt einander ihre Bälle zu: ihre
Launen, Moden, Leidenschaften, Lieblinge, ihre
Vergnügungen, Freuden und Künste, ihre Wissen-
schaften und Werke tauschen sie aus und finden am
Wechsel Gefallen. Das gleiche Theaterstück wird
in Berlin und Paris gespielt, die gleiche Ladenaus-
lage prangt in London und Newyork, das gleiche
wissenschaftliche Problem hält sie in Atem, der
gleiche Skandal macht sie lachen, die gleiche Küche
ernährt sie, der gleiche Hausrat umgibt sie. Nie
waren im Mittelalter zwei benachbarte Städte
eines Landes : Nürnberg und Köln, Genua und Vene-
dig, einander im wesentlichen so ähnlich wie heute
London und Paris, Newyork und Berlin.
So kommt es, daß die städtischen Zeitgenossen
dieses Kulturkreises in unerhörter Weise sich ver-
stehen, ja zuletzt gar einander gleichen; so daß
mancher Reisende, der in einem Nachtschlaf
Berlin mit Paris vertauscht, sich eigentlich nur
darüber wundert, daß er beim Aussteigen andre
Sprachlaute vernimmt als beim Abschied.
Wer dürfte aber leugnen, daß die Städte sich
des wirkenden Geistes unsrer Zeit bemächtigt
haben ? Wenn auch nicht das Treiben der Straße
H
lind des Marktes das Wesen der Länder verkörpert,
so ist doch das wirkende und das sichtbare Leben
zuletzt eines; was in der Seele keimt, das spiegelt
sich im Auge, und was im Auge leuchtet, das zuckt
in den Händen.
Die Betrachtung aber bestätigt: in verschiedenen
Zungen sprechen die Gedanken aller Länder die
gleiche Sprache. Hier gibt es kein Land mehr des
vorwiegend imperialen Denkens, keines mehr des
künstlerischen oder religiösen oder merkantilen
Geistes. Rom, Athen, Jerusalem und Karthago
sind verschmolzen, alle denken und trachten alles,
und alle das gleiche in gleicher Weise.
So haben wir zeitlichen Stillstand und örtliche
Einform als Wesen dieser bewegtesten und mannig-
faltigsten aller Zeiten, die sich stündlich mit Neuig-
keiten sättigt und keinen Gedanken so feierlich
betont wie den der örtlichen, nationalen und per-
sönlichen Individualität.
Und nun den Blick in die früheren Jahrhunderte
unsrer Zeitrechnung zurückgewendet! Lassen wir
die Wandlungen des technischen Gehabens unbe-
achtet; halten wir uns an menschliche, physische,
ethische, transzendente Eigenschaften: und wir
müssen eingestehen, daß eine ähnliche Wandlung
des Leibes und der Seele bei gleichbleibendem Volks-
körper in aller bekannten Geschichtsentwicklung
uns nicht begegnet. Wir kennen Völker mit tausend-
jähriger Geschichte; wir ahnen, daß Ägypten,
Persien, Rom und China gewaltige Wandlungen
der Menschen und ihrer Sitten zwischen Anfang
und Ende ihres Völkerlaufes erblickt haben. Aber
Wandlungen germanischer Krieger in deutsche
Gelehrte, preußische Beamte, Berliner Hausbesitzer,
15
sächsische Industriearbeiter,Wandlungen frankogalli-
scher Abenteurer in französische Bourgeois, Pariser
Journalisten und Coulissiers -Wandlungen des Blutes
und Geistes von solch erstaunlicher Verwegenheit
i:ennen die uns erschlossenen Historien nicht.
Immer wieder fühlt man sich versucht, die taci-
teischen Schilderungen als Fabeleien eines nord-
landsüchtigen Italieners zu verwerfen; allein die
Geschichte des Mittelalters und die Werke dieser
großen Zeit lassen uns Menschen empfinden, die
der römischen Zeichnung gleichen. Vor den deut-
schen Domen und ihren Steinbildern, aus den
Gesängen Walthers, Gottfrieds und Wolframs blickt
uns die Gewißheit entgegen, daß Völker dieses
Schlages gelebt haben: Menschen von demuts-
vollem Stolz, von kluger Treue, von furchtlosem
Glauben, von kraftvoller Zartheit.
Suchen wir nach den Gestalten dieser Menschen,
so brauchen wir nur unsre Museen zu betreten:
das ganze Mittelalter hindurch, teilweise bis in
die ersten Jahrhundertc der neueren Zeit, zeigen
die Bilder von Menschen und Gottheiten das deut-
sche Antlitz. Bis tief nach Italien und Spanien
hinein, wo heute kein Tropfen dieses Blutes mehr
sichtbar ist, tragen die Idealgestalten die gleichen
Züge. Wo dunklere Gestalten erscheinen, kenn-
zeichnen sie den Niedriggeborenen, den Frem-
den und Bösen. Selbst die Bildnisdarstellungen
der beginnenden Neuzeit zeigen in Deutschland,
den Niederlanden, Frankreich überwiegend, in
Italien häufig, die Gestalten, die bei uns so
selten geworden sind. Man möchte sagen, daß
das moderne Bildnis vom alten mehr durch den
Unterschied der Dargestellten als durch Ver-
i6
schiedenheit der Gewandung und der Malweise .
abweicht.
In den Straßen der Großstädte treffen wir die
Menschen dieser Bildnisse selten. Es könnte jemand
tagelang Unter den Linden auf und ab spazieren,
ohne auch nur einen einzigen Menschen vom ^Iten
Schlage zu erblicken: und träfe er ihn, so würde in
den meisten Fällen eine kurze Unterhaltung offen-
baren, daß die Seele eines Hohenstaufcn in diesem
bevorzugten Körper nicht wohnt. Entfernt man
sich jedoch von den städtischen Zentren nach
jenen abgelegenen Gauen hin, etwa nach Friesland,
Jütland und dem südlichen Schweden, so finden
sich heute noch Menschen, ja Stämme, welche die
antiken Schilderungen rechtfertigen und retten.
Freilich tragen auch sie nicht Schild und Brünne;
auch sie sind bisweilen Kaufleute, Rechtsanwälte,
Techniker, Ärzte; aber seltsam ist zunächst das
eine, wie starr sie an einigen alten Berufen, des
Ackerbauers, Züchters, Fischers, Jägers, Schiffers,
festhalten. Und da, wo sie in neuzeitlichen Berufen
stehen, bemerkt man bald eine seltsame, losgelöste,
dingliche und kühne Auffassung, die auf den Kern
der Sache geht, nicht auf die Zwecke, und die daher,
wie Glück und Umstände es wollen, das eine Mal
zu ungewöhnlichen Erfolgen, das andre Mal zum
gänzlichen Mißlingen führt.
Das seltsamste aber ist dies : wo wir Menschen des
früheren Schlages treffen, da erkennen und ver-
stehen wir auch den Geist alter Zeiten. Die ruhige,
treu zuversichtliche und vornehm freie Art des
Betragens, die karge, zur Untertreibung neigende
Sprache, die des Rühmens bare Freude an Kraft
und Mut, die leise Verspottung überklugen Wesens,
die Heimatliebe, Geistigkeit und immaterielle Fröm-
migkeit, diese Wesenszüge erinnern zugleich an die
höchsten Erscheinungen unsrer eigenen Zeit und füh-
ren wiederumhinauf zu den Liedern des Vogelweiders,
zu Fischarts Schwänken und zu Ekkharts Mystik.
Was ist nun im Laufe dieser Jahrhunderte ge-
schehen ? Was hat die Menschen, ihre Leiber, ihre
Seelen so gewandelt ? Was hat ihren Geist ergriffen,
um durch ihn die Welt so gänzlich umzugestalten
und diese umgestaltete Welt rückgewandt auf Geister
und Seelen wirken zu lassen ? Gibt es eine Grund-
erscheinung als Ursprung und Achse dieser neuen
Zeit und Welt, die, was man auch von Wiederkehr
der Dinge sagen mag, schlechthin ohne Vorbild und
Gleichung uns umgibt und beherrscht? Die Er-
kenntnis dieser Urkraft und ihres Wirkens würde
uns Wesen und Zusammenhang der Moderne, von
vorgespiegelter Selbstverständlichkeit losgelöst, ob-
jektiv fühlbar machen, aus dem Übermaß der Er-
scheinungen das Notwendige vom Zufälligen son-
dern und am Ende gar eine Vorstellung von der
Richtung der Entwicklung gewähren. Und selbst ein
Irrtum im Zielen auf die Grunderscheinungen wird
nicht unter allen Umständen wertlos sein, wie denn
ein erster Schuß, auch wenn er fehlt, dem Geschütz-
führer Anhalt für Richtung und Abstand gibt.
VERSUCHTE LÖSUNGEN
Wer sich in eine stetige Erscheinung vertieft
in dem Bestreben, ihre Änderungen auf
irgendeine Gesetzmäßigkeit aufzureihen, das heißt,
sie als Funktion einer einfacheren oder bekannteren
l8
zeltlichen Erscheinung festzulegen, der kommt
leicht in Gefahr, Kontinuität und Kausalität
zu verwechseln, indem die einzelnen Phasen teils
ihrer mählichen Übergänge wegen, teils infolge
eines Gegensatzes sich wechselseitig zu erzeugen
scheinen, während sie in Wahrheit der Zentral-
bewegung einer unbekannten dritten Kraft folgen.
Ein alltägliches Beispiel mag diese Erwägung bis
zu einem gewissen Punkt erläutern. Hat der Wind
eine Zeitlang von Süden her geblasen, dann von
Südwesten und jetzt von Westen, so werden manche
sagen: Dies war vorauszusehen; es liegt eben eine
nach Westen drehende Neigung des Windes vor.
Ist er statt dessen von Süden nach Nordosten
gegangen, so wird man hören, dies sei die Folge
eines notwendigen und üblichen Gegensatzstrebens.
In beiden Fällen bleibt unbeachtet: warum hat
die westdrehende Neigung nicht schließlich nach
Nordwesten, Norden oder weiter geführt ?, warum
hat das Gegensatzstreben nicht statt nach Nordosten
nach Nordwesten gewiesen ?, schHeßlich : warum ist
überhaupt, und gerade jetzt, eine Änderung vor-
gegangen ? Die Wahrheit ist, daß nicht in irgend-
einer Tendenz der Windrichtung, sondern in dem
tieferliegenden Spiel der meteorischen Kräfte der
Urgrund dieser wechselnden Erscheinung, dem
beobachtenden Sinn unerkennbar, ruht.
Mit einer Verwechslung von Kontinuität mit
Kausalität wird häufig die Frage nach der Herkunft
der Neuen Zeit beantwortet. Ihre Ursache, so
heißt es meistens, liegt im Verkehr. Und woher
kommt der Verkehr ? Von der Maschine. Und die
Maschine ? Von der Entwicklung der Technik.
Woher stammt die Technik ? Sie ist angewandte
*• 19
Wissenschaft. Wie kam die okzidentale Wissen-
schaft empor? Sie war das gegensätzliche Erzeug-
nis der Scholastik. Und so fort bis zu Adam und
Eva.
Gewiß ist es verlockend, die tausendjährige Ent-
wicklung an die Kette der Geistesevolution zu
reihen, deren Glieder uns als lückenlose, unzerreiß-
bare kausale Folge erscheinen. Aber wie bedenklich
wäre es, auch nur die Geschichte eines mensch-
lichen Lebenstages oder eines ganzen Lebenslaufes
an die Kette einer Gedankenfolge reihen zu wollen !
Noch schwerer wäre die innere Kausalität dieser
Gedankenfolge selbst glaubhaft zu machen, und
es würde für die Haltbarkeit der Reihe wenig ge-
wonnen, wenn man sich auf den allgemeinen Ur-
sprung als Ausfluß einer Persönlichkeit beschränkte.
Gewiß ist es eine schöne Aufgabe, darzustellen,
wie ein jugendliches Heidentum in gläubige Mystik,
in dürre Scholastik sich verwandelt; wie aus dem
sterbenden Reis die Forschung, das freie Denken
und die Wissenschaft hervorsprießt; wie diese in
zweckhafter Verzweigung die Technik abspaltet;
gewiß mußte es so sein, denn es ist; aber warum
mußte es gerade so sein und nicht anders ? Die
Griechen hatten Mystik, aber keine Scholastik;
sie hatten Wissenschaft, aber keine Technik; die
Juden hatten Scholastik, aber keine Forschung;
die Römer hatten freies Denken, Technik, aber
keine Wissenschaft; die Ägypter und Chinesen
hatten Technik, aber weder freies Denken noch
Forschung. Somit sind Geistesevolutionen denk-
bar, die von verschiedenartigen Ausgängen zu glei-
chen Ergebnissen, und wiederum solche, die zu
verschiedenartigen Ergebnissen bei gleichem Aus-
20
gang gelangen, und deshalb bietet die scheinbar
so feste Kette keinen genügenden Halt, um den
eisernen Weg der Völkerentwicklung zu tragen.
Glücklicher scheint der Versuch, den Neuere
gemacht haben: die Wandlung Germaniens in
ein prussianisiertes Weltreich — und gleichzeitig
die Parallelgestaltungen aller westlichen Länder —
als Funktion wirtschaftlicher Vorgänge aufzufassen,
und zwar sie an den Übergang von der Individual-
wirtschaft zur Universalwirtschaft, die man Kapita-
lismus nennt, zu ketten. Nur seltsam, daß sie es
sich nicht angelegen sein ließen, die letzte Triebkraft,
die die Wirtschaftsverschiebung verschuldet, ans
Licht zu ziehen, obwohl es mit Händen zu greifen
war: die Volksvermehrung; die ungeheuerste, pro-
portional und absolut gewaltigste Volksvermehrung
seit Anbeginn menschenkundiger Zeiten. Man zog es
vor, zu eigenartigen Hypothesen Zuflucht zu nehmen ;
so schuf man ein besonderes Naturgesetz, wonach
die Menschheit das Bestreben habe, zwischen
Begierde und Genuß möglichst viele Stadien zu
schalten: nicht sehr überzeugend zwar, doch gut
zupaß; wie es denn von alters her stets ein Vor-
recht der Erklärer war, ein factum durch eine
facultas zu erleuchten.
Wie eng die wirtschaftliche Evolution mit der
Volksvermehrung sich verknüpft, ist augenscheinlich.
Einzelwirtschaft bedeutet Abgeschlossenheit, Nach-
barlosigkeit; Gesamtwirtschaft bedeutet enge Berüh-
rung, Zusammenschluß. Einzelwirtschaft kann nur
aus dem vollen schöpfen, ohne Rücksicht, wie viel,
wie wenig übrigbleibt. Gesamtwirtschaft lebt von
Ersparnis; Ersparnis an Zeit, Kraft, Material,
Lagerverlust, Reibungsverlust. Gesamtwirtschaft
21
ist noch heute ebenso undenkbar bei spärlicher
Bevölkerung, wie Einzelwirtschaft bei großer Dichte.
Gesamt Wirtschaft muß daher mit Naturnotwendig-
keit eintreten, sobald eine gewisse Verdichtung statt-
gefunden hat.
Wenn trotz dieses offensichtlichen Zusammen-
hangs die Vertreter der wirtschaftlichen Auffassung
nicht gewagt haben, die Volkszunahme schlechthin
als Evolvente zu wählen, so läßt sich eine Erwägung
anführen, die dies Zögern zu rechtfertigen scheint.
Denn immer wieder tritt bei Aufgaben, die sich
auf Massenphänomene beziehen — mögen nun Flüs-
sigkeitsbewegungen oder thermische Erscheinungen
oder lebendige Gemeinschaften der Betrachtung
dienen — die Erfahrung hervor, daß jede kleinste
Verschiebung durch die benachbarte bedingt und
abgewandelt ist; keine Kraft wirkt losgelöst und
ungehindert; daher denn auch im vorliegenden
Fall nicht bestritten werden kann, daß rückwirkend
bis zu einem gewissen Grade die wirtschaftliche
Entwicklung und der ihr folgende Wohlstand auf
die Volksvermehrung habe einwirken können. Es
konnte am Ende gar der Zweifel entstehen: ob
nicht überhaupt das Phänomen umgekehrt aufge-
baut sei : zuerst Wirtschaftsumsrhwung, dann Volks-
verdichtung. Dies wäre freilich nicht viel anders,
als wenn jemand den Satz „Volksansammlungen
veranlassen Verkehrsstörungen" grundsätzlich um-
kehren wollte, weil unbestreitbar Verkehrsstörungen
auch schon manchmal Aufläufe hervorgerufen
haben.
Mit besserem Recht könnte man geltend machen,
hier werde nur ein Rätsel durch ein anderes ver-
drängt: denn wie in aller Welt sei eine Volksvcr-
22
dichtung erklärlich, die allen Seuchen und Kriegen
des Mittelalters und der neueren Zeit standgehalten
und von der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts
an die gewaltigsten Menschenkonzentrationen er-
zeugt habe, die je von europäischem Boden er-
tragen wurden?
Um dieser seltsamen Frage zu begegnen, wird es
nötig sein, nochmals einige Schritte zurückzutreten
und von neuem auszuholen.
GESCHICHTETE VÖLKER
In seltsamem Doppelsinn deutet das Wort „Ge-
schichte" — das von geschehen kommt — auf
das Geheimnis, daß nur geschichtete Völker
Historie machen und erleben. Einschichtige Völker,
das heißt solche, die aus einheitlich entstammten
oder gut zusammengekochten Rasseelementen be-
stehen, zeigen, von den Ägyptern bis zu den Chinesen,
im Stande der Zivilisation das gleiche Bild: Abge-
schlossenheit und Konservativismus, lange Dynastien-
reihen von wesentlich gleichartiger Physiognomie,
langsam-stetige technische Entwicklung, die aber
keinen Aufstieg zu einer idealen Kultur bedeutet,
vielmehr in Geist und Kunst eine allmähliche
Verflachung und Vernüchterung erlebt, indem die
lebendige Kraft des einstmaligen, vorzeitlichen
Anstoßes sich nach und nach aufbraucht.
Eine Geschichte hingegen, das Werden und Ver-
gehen politischer Formen, geistiger Ziele, Erleb-
nisse und Träume, Wechsel von leidenschaftlichen,
friedlichen und tätigen Epochen, Aufstieg, Aus-
breitung und Niedergang, kurz das, was im Leben
23
des einzelnen dem freien, heroischen und tragischen
Schicksal entspricht: eine Geschichte ist nur den-
jenigen Gemeinwesen beschieden worden, die von
einer Oberschicht beherrscht, von einer stammver*
schiedenen Unterschicht getragen waren. Solche
Zweischichtigkeit prägt sich mit Entschiedenheit
aus im Bestehen von Aristokratien; daß alle Kultur
dieser Erde von aristokratischen Gebilden ausge-
gangen ist, bezeugen Indien, Griechenland und
Rom, Florenz und Venedig, England und die Nie-
derlande, Frankreich und Deutschland. Selbst im
fernen Osten muß den Japanern die Führung und
Verantwortung zufallen, weil ihr Feudalsystem die
Reste alter Zweischichtigkeit am Leben erhält.
Diese Schöpferkraft des Zwiespalts entspricht
einem einfachen Gesetze. Wir können uns keiner
Vorstellung bewußt werden als durch den Gegen-
satz, die Polarität. Wer die See kennt, begreift
das Binnenland, wer die Fremde kennt, begreift die
Heimat, wer seinen Nächsten kennt, begreift sich
selbst, soweit denn ein Begreifen uns beschieden ist.
Ein rechtes Volk aber erblickt in seinen Nachbarn
den Spiegel nicht; sie sind ihm zu fern, zu fremd
und zu verhaßt. Den Spiegel erblickt es im fremden
Landesgenossen, und bei diesem Anblick wird es
sich seiner selbst bewußt. Es beginnt die feinere
Scheidung und Erkenntnis der physischen, sitt-
lichen und geistigen Gegensätze, eine Selbster-
kenntnis, Kritik und Wertung tritt ein, und mit
diesen ersteht ein Ideal. Zugleich brechen die
schönsten Kräfte menschlicher Gegensätze und
Pflichten hervor: der Obere herrscht, leitet, ver-
antwortet und schützt, der Untere gehorcht, leistet,
dient und strebt. Der Obere erzieht sich zur Ge-
24
sinnung und Freiheit, der Untere zur Ausdauer
und Fertigkeit. Daß solche Arbeitsteilung Großes
hervorzubringen bestimmt ist, zeigt jede bewußte
Organisation bis in die jüngste Zeit.
Nun ereignet sich aber in diesen zweischichtigen
Volkswesen jeweils etwas Wunderbares, in einem
jeden zu seiner Zeit und ein einziges Mal : die beiden
Schichten, einst wie öl und Wasser getrennt,
beginnen sich zu lösen, die Kontraste verfließen
(die Unteren sagen: die Vorurteile), ein näheres
Erkennen, ein engeres Zusammenwirken tritt ein.
Noch hat die Oberschicht soviel Recht und Gel-
tung, daß ihre reineren und freieren Ideale den
Geist der Gesamtheit beherrschen, noch hat die
Unterschicht soviel Glauben und Respekt, daß
sie ihr Können, ihr herkömmliches Handwerk,
ihre Kunstfertigkeit in den Dienst dieser Ideale
stellt. Die Kunstwerke solcher Epochen sind die
edelsten Zeugnisse des irdischen Geistes ; vor Zeiten
nannte man sie hohen Stils, heute werden sie als
archaisch oder primitiv verehrt.
Sodann beschleunigt sich der Vorgang, dem
Phänomen vergleichbar, wenn zwei Flüssigkeiten
hoher chemischer Affinität durch Mischung in
Reaktion treten. Es lösen sich die lang verhaltenen
Energien in einer Epoche heißen Aufschäumens
und leidenschaftlicher Lebenssteigerung. Jetzt stei-
gen die Befähigten der Oberschicht aus der Herr-
schersphäre hinab in die Schar der Ausübenden;
jetzt steigen die Bedeutenden der Unterschicht
empor in die Zahl der Bestimmenden; ihre innersten
Geheimnisse rufen die beiden Stämme freudig und
rückhaltlos einander zu; jede Wahrheit hat Gel-
tung, jeder Gedanke findet Hörer, man erlebt das
25
Ungeheure und erwartet das Unmögliche. In
solchen Zeiten ersteht der Kunst aus der Mischung
der Freiheit und des Ausdrucks die Blüte, die
wir aus der Zeit des Phidias und des Lionardo
kennen.
Noch lange bleiben die Elemente in Bewegung,
aber das Phänomen ist vollbracht, die Mischung ist
geschehen. Die Unteren waren die Zahlreicheren,
und so trägt das Gemenge ihre Färbung. Meist
haben sie der Staatsform ihren Stempel aufgedrückt,
zum mindesten herrschen sie faktisch. Die trans-
zendenten Ideale der alten Führer sind gefallen,
an ihre Stelle tritt der freie Bewerb um den Ge-
schmack der Menge. Dieser Geschmack aber ist
geistig Skeptizismus, Negation, Aberglaube und
Rationalismus, künstlerisch Materialismus, Dekla-
mation und Ekstase. Einer Epoche dieser Art hat
man die Bezeichnung des „Barock" gegeben, ein
Name, den man füglich auf die Parallelepochen an-
wenden könnte, so daß bei allen Kulturzeitaltern
von einer archaischen, einer gipfelnden und einer
Barockperiode kurz und verständlich gesprochen
werden könnte.
Mit dem Abschluß dieses dritten Abschnitts
tritt die Beruhigung ein, und zwar für immer,
sofern nicht neue Eroberer neue Oberschichten
schaffen und den Kreisprozeß von neuem vorbereiten.
Geschieht dies nicht, so bleiben die Affinitäten ge-
sättigt, die freien Energien sind verpufft, und die
ausgebrannten Völker bleiben oftmals wie tote
Schlacken am Wege liegen. So sind aus Dorern und
Attikern innerhalb weniger Menschenalter die
Graeculi der Römer geworden, so aus den Römern
selbst römische Italiener,
26
Im Gegensatz zu diesen Erscheinungen der Ver-
mischung bleiben einschichtige Völker sich selbst
ihr Leben lang gleich, wie die Nationen Asiens
beweisen. Technische Erfindungen mögen ihr
äußeres Dasein langsam bewegen; ihr Geist, ihr
Wille und ihre Seele bleiben, wie sie waren, und
kaum merklich ändern sich die Zeugnisse des inneren
Lebens: Religion und Kunst, Schrift und Sprache.
Hier sei eine Anmerkung gestattet:
Bei der großen Aufmerksamkeit, die unsre Zeit
dem Wesen, der Geschichte und dem Austausch
der Sprachen zuwendet, scheint es seltsam, daß
man sich um das eigentlich Physiologische ihrer
Entwicklung wenig kümmert. Daß und wie die
Sprachen sich umgestalten, wissen wir; aber wie
kommt es, daß die eine sich jahrhundertelanger
Ruhe erfreut, die andre in stetem Wechsel sich
bewegt, die dritte im Laufe knapper Jahrhunderte
von Grund auf sich erneut? Betrachtet man die
Sprache als einen Teil der geistigen und körper-
lichen Physiognomie, so liegt die Erklärung nahe.
Nur gleichbleibende Individuen können gleich-
bleibend sprechen. Veränderte Denkweise und ver-
änderte Muskulatur muß veränderten Sprachaus-
druck schaffen; wie denn ein jeder beim Erlernen
bemerkt, daß es einer zwangsweisen körperlichen
und geistigen Nachahmung bedarf, um neuer Rede
sich anzupassen. Starke Persönlichkeiten sind nur
in früher Jugend biegsam genug, dieser doppelten
Schauspielerei sich zu bequemen; übertrieben
vielsprachige Befähigung hat bei Alteren etwas
Prostitutionsmäßiges. Sollen ganze Völker ihre
Sprache ändern, so muß in ihrer physischen Be-
schaffenheit eine Änderung vorgegangen sein;
27
und es wird vielleicht einstmals in der beschleunig-
ten Wandlung der Sprache das feinste und zuver-
lässigste Reagens auf den Zutritt neuen Blutes
gefunden werden.
Damit die Doppelschichtung eines Volkes ihre
natürliche Wirkung ausübe, ist keineswegs erfor-
derlich, daß eine äußerlich erkennbare Trennungs-
fläche die entgegengesetzten Massen scheide, noch
gar, daß jeder Volksgenosse sich seiner Rolle als
oberes oder unteres Glied klar bewußt sei. Voraus-
setzung ist lediglich, daß die Oberen den Geist
und Willen der Gesamtheit bestimmen und leiten;
so wie etwa zur republikanischen Zeit die Römer
echten Blutes das intellektuelle Leben der namen-
losen Italiker und Eingewanderten derart beherrsch-
ten, daß die winzige Zahl der Herren einem Welt-
reich und einer Weltepoche Stimmung und Namen
aufzwingen konnte. Ebensowenig darf man ver-
langen, daß der attische Plebejer, der das Handwerk
des Steinmetzen übte, bei jedem Meißelschlag zu
jenem blonden Patriziersohn aufblickte, der ihm
sein Götterbild bestellte. Es genügte, daß Geist
und Geschmack des Adels das Zeitalter erfüllte
und den Bildner zwang, die menschhche Gestalt
unter der Form des göttlichen Ideals zu erblicken;
denselben Bildner, dessen Vorfahren und Nach-
kommen, von der Überwachung befreit, weit lieber
Monstren, Süßlichkeiten und Karikaturen schufen.
Umgekehrt wird man sich hüten müssen, in
unklarer Verallgemeinerung eine historisch wirk-
same Schichtung überall da zu erblicken, wo eine
Abstufung auftritt. Dann freilich gibt es in jeder
Volksgemeinschaft Starke und Schwache, Reiche
und Arme, Geschützte und Hilflose. Aber diese
28
Gruppen stehen einander nicht als Rassen und
Völker gegenüber; indem vielmehr sie auf- und nie-
dertauchen wie die Flüssigkeitsteile eines Wellen-
zuges, können sie wohl im Zustande der Erhebung
eine etwas veränderte geistige Temperatur oder Fär-
bung gewinnen und den Tiefen mitteilen ; Wechsel-
wirkung und Austausch grundsätzlicher Eigenschaf-
ten und Kräfte zu vermitteln, vermögen sie nicht.
DIE AUFZEHRUNG DER OBERSCHICHT
Noch heute sind die Länder des mittleren
Europa nicht von durchweg einschichtigen
Völkern bewohnt. Die Herrscherhäuser deutscher
Zunge und ihre Gefolgschaften entstammen einer
Oberschicht, die sich bei Strafe des Verlustes edel-
ster Rechte mit fremdem Blute niemals mischen
darf. Die Heere als Träger und Garanten der Natio-
nalmacht nach außen, der Herrschermacht nach
innen, gehorchen adligen Führern. Die Geschäfts-
führung deutscher Staaten und ihre Vertretung
geschieht durch Zugehörige der oberen Schicht,
nicht minder die höchste Leitung der Regierung
und der größere Teil ihrer Exekutive. Ja selbst
die Gesetzgebung kann der Billigung und des
Vetos einer Herrenkurie nicht entbehren. Der
Geschichtschreiber später Zeiten wird vor einem
Rätsel stehen, wenn er sich zu vergegenwärtigen
sucht, wie unsre Zeit mit den äußeren Organen
ihres Geistes demokratisch zu fühlen glaubte,
während das Wollen ihrer inneren Seele den Aristo-
kratismus noch immer duldete und zu erhalten
strebte.
29
Freilich ist seit den letzten Jahrhunderten
Adel nicht mehr reines Abzeichen edleren Blutes;
dennoch zieht er seine stärksten Kräfte aus dem
Stammhaften: Gesinnung und Physis. Wer ein
preußisches Regiment defilieren sah und die Ge-
stalten der Truppe mit denen der Führer verglich,
der hat, wenn anders sein Auge für Betrachtung
organischer Wesen geschärft ist, den Gegensatz
zweier Rassen erkannt: gleichzeitig aber hat er
ein sichtbares Symbol und Abbild der Gliederung
unsres Volkes erblickt.
Weist somit unsre Zeit, bei allem offenkundigen
Hang zum Demokratischen, noch immer sichtbare
Spuren der Doppelschichtung auf, so können wir
uns den Beginn unsrer Geschichte nicht anders als
im Charakter ausgesprochener Zweiheit der Be-
völkerung denken.
Vom ganzen ostelbischen Deutschland wissen
wir, daß es zu geschichtlich bekannten Zeiten durch
Eroberung und Kolonisation als doppelschichtiges
Volksgebilde entstand. Die Sieger waren Ger-
manen, die Besiegten Slawen, das Ereignis geschah
vom zwölften bis ins vierzehnte Jahrhundert. Auf
welchen Unterschichten besiegter Urbevölkerungen
das übrige Deutschland ruhte, als es mit seiner
aristokratischen Gliederung von Freien, Halbfreien
und Hörigen in die Geschichte eintrat, ist unbekannt ;
doch ahnen wir aus frühen Sagen und späteren Dar-
stellungen manches vom Wesen der Unterworfenen.
Dunkelhaarig war der Knechtsbruder des frei-
geborenen Knaben. Handfertigkeit, schlaue Künste
und feiger Sinn ist das Erbteil der Dunkelwesen.
Sie sind klein von Gestalt; ihr Haar ist kurz und
kraus; deshalb muß zur Hervorhebung des Gegen-
30
Satzes der Freie in allen Ländern das blonde Haupt-
haar lang und schlicht um den Scheitel wallen lassen.
Bis in die neuere Zeit hinein zeigen die älteren
bildlichen Darstellungen von Bauern, Hörigen und
Verbrechern die gleichen Züge: runde Schädel,
breite Gesichter, aufgestülpte Nasen, kurze, ge-
drungene Glieder. Daß hier nicht Merkmale des
Berufes, sondern des Stammes dargestellt werden
sollten, beweisen die germanischen Gebiete des
Nordens, wo Jahrhunderte bäuerlicher Arbeit den
feingegliederten, schlanken und edlen Schlag nicht
verwandeln können.
Indem nun jeder der südwestlich gerichteten
Germanenströme die dunkleren Urvölker über-
deckte, und zwar mit einer Schicht, die um so
schwächer je weiter sie von der Einbruchszone
entfernt war, so mußte denn auch die Aufzehrung
in verschiedener Geschwindigkeit und verschiedener
Vollkommenheit erfolgen: die südwestlichen Halb-
inseln Europas, verglichen mit der nordöstlichen,
zeigen heute den entschiedenen Kontrast dunkler
Bevölkerung.
Versucht man, sich die Bilanz der Kräfte zu
vergegenwärtigen, denen im Laufe der europäischen
Geschichte die beiden Elemente des Volkes, vor-
nehmlich in Deutschland, ausgesetzt waren, so
treten folgende Tendenzen hervor:
I. Bezüglich der Herrschaft. Sie war von den
Eroberern mit Gewalt gewonnen und wurde zu-
nächst mit Gewalt behauptet; solange, bis sie ver-
fassungsmäßige, soziale oder plutokratische Geltung
erlangt hatte. Dann aber mußte die Erhaltung der
Herrschaft den Mächten der Ordnung anheimge-
geben werden; Gewaltakte waren nur noch statthaft
31
bei der Bekämpfung Aufständischer und Ungläu-
biger, denn die beiden großen Erbteile des Ostens,
Kaisertum und Kirche, wirkten im Sinne der Zivili-
sation. So blieb das Herrschaftsverhältnis im Inner-
sten ungefestigt und unverteidigt, mußte zerbröckeln
wie jeder Bau, den man nicht pflegt und erneuert,
sondern seiner eigenen Festigkeit überlassen zu
können glaubt.
2. Bezüglich der Herrschenden. Aus Waldland
waren sie hervorgetreten, jagd- und waffengeübt,
unbekannt mit verfeinerten Bedürfnissen, unge-
wohnt der Arbeit und des Zusammenlebens. In
nicht unähnlicher Lage, wenn auch um vieles
tiefer stehend, erblickte man vor einem Menschen-
alter die edleren Stämme des mittleren Afrika, die
seither ihrer Natur entrissen, zum Teil vernichtet
sind.
In wenigen Jahrhunderten lichtet sich das Land.
Die Jagdgründe wichen zurück, der Zwang des
Glaubens, des Lernens, des Erwerbes, des häus-
lichen und gedrängten Lebens trat heran. Die
Frage war: Wie wird dies Waldvolk bestehen und
gedeihen in steinernen Häusern, bei fremdartiger
Nahrung, tagsüber dicht bekleidet, des Nachts in
heißen Betten, im Leben von neuen Bildern, Ge-
danken und Pflichten umgeben und beherrscht?
Die Sehnsucht des Mittelalters blieb der schwin-
dende Wald. Und wenn die heitere Schwermut
dieser Zeit zu Ausbrüchen der Schwärmerei, zu
Vorstellungen des Verfolgungswahns sich verdüsterte,
8o wurden die Wirrnisse einer Volksseele offenbar,
die ihre Heimat verloren hatte. Kriegszüge und
Fehden hielten ununterbrochen ihre Auslese der
Vernichtung unter den Besten, indes der Leib des
32
Volkes von periodischen Seuchen erschüttert wurde,
deren Verheerungen nicht ihresgleichen gefunden
haben. So wirkten veränderte Bedingungen des
Bodens und Klimas, neubegründete Lebensweise,
Krieg und Pestilenz auf das doppelschichtige Vollis-
gebilde ein; symmetrisch, Gleichgewicht erhaltend
zwischen beiden so verschieden gearteten Organis-
men, konnten diese Kräfte sich nicht erzeigen:
und wenn die eine Schale sinken, die andre steigen
mußte, so war der herrschende Stamm, der reicher,
feiner organisierte, kriegerische und abenteuerliche
bestimmt, schwerer unter den neuen Lebensformen
zu leiden, die seiner Natur feindseliger waren als
der Natur seiner Knechte. Auch darf hier nicht
unterschätzt werden, daß eine Religion des Frie-
dens, der Feindesliebe, der Demut, mit instinktiver
Abneigung begrüßt, mit Gewalt aufgezwungen,
zwar zur Milderung der Sitten führen, gleichzeitig
aber die Niederen erhöhen, die Hohen erniedern
mußte.
3. Bezüglich der Beherrschten. Ihr sklavisches
Schicksal konnte sich nur mildern; die Stärken der
Knechtschaft blieben ihnen erhalten. Zähigkeit
und Anpassung, Schlauheit und Voraussicht sind
die Eigenschaften aller Schwachen, Unterdrück-
baren und Unterdrückten; tritt Besitz hinzu oder
ein anderer Hebel der Macht, so materialisieren
sich diese Eigenschaften zu gewaltigen Kräften.
Fruchtbarkeit und Vermehrung, bei hochstehenden
Stämmen sich selbst das Maß setzend, finden hier
Beschränkung nur durch Not und Sterblichkeit,
so daß sie, wie gespannter Kesseldampf, sich schran-
kenlos ergießen, sobald das hemmende Gewicht
beseitigt ist. So sehen wir heute im preußischen
^•3 33
Osten das Bild einer Unterschicht, die ihr Gegen-
gewicht überwunden hat und nun in rastloser Aus-
dehnung den Raum des Landes zu erfüllen trachtet.
Dem Wachstum kommt die Bildsamkeit und
Anpassung zustatten, die abhängigen Menschen-
schlägen eigen ist. Denn da sie ihre Lebensbe-
dingungen nicht selbst schaffen, vielmehr von
anderen empfangen, so ist ihre Natur, einmal
elastisch gemacht, allen späteren Änderungen der
leiblichen und geistigen Umwelt widerstehend.
Das Beispiel der Juden bestätigt dies, und noch ein
weiteres : daß die Gewohnheit rastloser und zwang-
läufiger Arbeit allmählich den Arbeitsdrang als neue
Notwendigkeit schafft, und um ihn zu rechtfer-
tigen, Zwecke hinzuerfindet; ähnlich wie der Traum
des Erwachenden nachträglich ein Erlebnis erdich-
tet, um das erweckende Geräusch sinnmäßig ein-
zuordnen. Arbeitstrieb, Fertigkeit und die ängst-
liche Vorsicht bedrückter Menschen gehen aber
eine Verbindung ein, die als Vorläufer des Erwerbs-
und Geschäftssinns auf eine der stärksten Waffen
im Rassenkampf hinausläuft.
Auch die gewaltigen Landerschließungen des
Mittelalters durch Roden und Urbarmachen konn-
ten, so seltsam es scheint, nur die Unterschicht der
Bevölkerung stärken und erweitern. Denn die
Territorialbesitzer, die von jeher in ihrer Subsistenz
gesichert und daher in ihrer Expansion ungehindert
sich fühlten, konnten durch die Erschließung ihrer
Besitztümer höchstens bereichert werden; für die
Unterworfenen aber wurde Raum, Nahrung, Tätig-
keit und damit die Möglichkeit der Ausbreitung
gewonnen. Begann erst einmal die Unterschicht,
von ihrem gesindeartigen Zustand befreit, sich Raum
34
und Lebensmöglichkeiten selbst zu schaffen, so
mußte durch immer nachhaltigere Bearbeitung der
Erdgüter die arme Natur zu einer reichen, die dürf-
tige Bevölkerung zu einer behäbigen, die spärliche
zu einer dichteren sich entwickeln. Die Herren aber
konnten die gleitenden Zügel nicht länger halten;
zu Fürsten des Landes konnten sie aufsteigen,
Besitzer des Landes und seiner Menschen höch-
stens dem Namen nach bleiben. Die Bewohner
des Landes indessen waren ein neues Volk, das sich
allmählich mit den Söhnen und Töchtern seiner
Herren vermischte.
So neigt sich die Kräftebilanz nach der Seite
der Unterdrückten, bei einer Betrachtungsweise,
die keinerlei Entwicklungsstufen und gelegentliche
Ereignisse vorausnimmt, die sich hütet, geistige
und technische Errungenschaften als Ursachen
anzusprechen, da sie ja ebensogut Wirkungen und
Mittel eines unbewußt wollenden Massengeistes
sein könnten, die vielmehr lediglich von eingeborenen
und uranfänglichen Voraussetzungen auszugehen
sich bestrebt.
Entschließt man sich nach diesen Erwägungen
zu der Annahme: in einem zweischichtigen Volke,
das durch fremde Kolonisation und Erschließung
des Landes in veränderte Lebensweise geraten war,
habe die Unterschicht von den Umwälzungen den
größeren Nutzen gezogen, sich rascher vermehrt
und allmählich einen großen Teil der Oberschicht
aufgezehrt, so verschmilzt diese Hypothese mit der
vorhin berührten Frage nach den Ursachen der
nachmittelalterlichen Volkszunahme zu einem ein-
heitlichen Theorem; und es wird augenscheinlich,
daß das Gesamtphänomen nicht als eine sekundäre
3* 3S
Erscheinung, sondern als die dem ganzen neuzeit-
lichen Erscheinungsinbegriff zugrunde liegende Ur-
sache betrachtet werden muß. Tiefere Ursachen
können alsdann nur noch in den physisch-psychischen
Elementen gesucht werden, die als ein Gegebenes
gelten müssen. Dagegen werden alle äußeren,
also zeitgeschichtlichen Einwirkungen nur als be-
schleunigende oder verzögernde Momente, alle
inneren Einzelevolutionen — und unter ihnen die
Reihenfolge der Geistesrichtungen, der wissen-
schaftlichen und technischen Errungenschaften —
nur als Willensakte und Hilfsmittel eines in bestimm-
ter Richtung strebenden Gesamtorganismus zu
betrachten sein. Und da in letzter Linie Wille,
Geist und Seele des Gesamtorganismus erkennbar
den Weg entscheiden, unerkennbar zum Ziele
treiben, so darf diese Betrachtungsweise, obschon
sie auf zählbar-sichtbare Elemente sich stützt,
den Vorwurf materieller Einseitigkeit ablehnen.
Aufgabe weiterer Erwägungen wird es sein,
nach Erledigung einiger Nebenfragen zu prüfen,
wieweit die neuzeitliche Weltgestaltung aus dem
geschilderten Phänomen: Verdichtung und Um-
lagerung, sich ableiten läßt.
Es soll jedoch schon jetzt ausgesprochen werden,
daß nach der hier vertretenen Auffassung die Dop-
pelerscheinung der Ursachen durch eine Doppel-
erscheinung der Wirkung unsrer Zeit den Stempel
aufprägt : die Verdichtung schafft sich in der sicht-
baren Welt ihre Kompensation, die ich Mechani-
sierung nennen will, und die darauf hinzielt, einem
übervölkerten Planeten die Möglichkeit der Subsi-
stenz und Existenz ungeahnter Menschenschwärme
abzuzwingen; die Umlagerung spricht sich in der
36
geistigen Verfassung unsrer Völker als Entger-
manisierung aus, die ein neues, für die Aufgaben
der Mechanisierung seltsam geeignetes Menschen-
material erschaffen hat.
Indem nun der veränderte Volkskörper dem
Mechanisierungsdrang sein Bestes liefert: neugierig
forschende Geschlechter mit leidenschaftlichem
Interesse für Tatsachen, Zusammenhänge und An-
wendungen; indem wiederum die Mechanisierung
diesen Menschenschlag fördert durch Assoziation,
Organisation und Werkzeug, verzweigen und ver-
weben die Wirkungskomplexe sich so mannigfach,
daß man einer einheitlichen Erscheinung gegen-
überzustehen glaubt, die gerade deswegen einzig-
artig und unerklärlich wirkt. Immerhin lassen sich die
Geäste sondern, wenn man den Zivilisationsstand der
Mechanisierung und die Geistesverfassung der Ent-
germanisierung losgelöst voneinander betrachtet.
Erste Anmerkung
Naturvorgang und Geschichte
Die geschichtlichen Evolutionen und Einzcl-
leistungen verlieren nichts von ihrer Größe
und Schönheit, wenn sie im Rahmen dieser an-
scheinend physikalisch-geometrischen Entwicklung
betrachtet werden. Denn die Einreihung in ein
größeres und einfacheres Gesetz streift zwar von
heroischen Ereignissen einen Teil des Zufälligen
und Willkürlich-Freien ab, sie läßt es aber um so
mehr als ein Notwendiges und Zuverlässig-Sicheres
erkennen und stärkt unsre Zuversicht, daß die
Kraft der göttlich-menschlichen Natur noch jeder-
zeit ausreicht, um veränderten Bedingungen zu
37
entsprechen, notwendige Heilkräfte zu bezeugen
und aus Bedrängnissen Möglichkeiten höherer Ent-
wickelung zu gewinnen. Tatsächlich beherrscht
den ganzen Kreis des uns bekannten Lebens ein
Gesetz, das sich in gleicher Umfassung im Vege-
tabilischen wie im Animalischen offenbart: das
Gesetz der Ausnutzung jeder gegebenen Lebens-
bedingung und der Erfüllung jedes gegebenen
Lebensraumes. So wie ein Wasserstrom zerklüf-
tetes Gestein durchdringt, derart, daß jede Spalte
und Ader sich mit Flüssigkeit erfüllt, gleichviel,
welchen verworrenen, kaum auffindbaren Weg ein
jeder Teil des Elements zu nehmen hatte, so ergießt
sich das Leben, immerfort verwandelt und umge-
staltet, unerschöpflich an Erfindungskraft, in jede
Existenzmöglichkeit, in jeden durch noch so ver-
wickelte Bedingungen beschränkten Hohlraum. Dies
schöpferische Gesetz wirkt früher als das der Aus-
lese: denn um unter geschaffenen Lebensorgani-
sationen auszuwählen, müssen Lebensorganisationen
geschaffen sein; und die stündlich erneute Anpas-
sungsarbeit jedes fertigen Organismus zeigt, daß
nicht Zufall noch das Gesetz großer Zahlen die
Entwicklungsarbeit der Kreatur bestimmt, sondern
ein erfinderischer Lebenswille. Was nun, uns un-
bekannt, etwa in den Geweben eines Pflanzen-
körpers, sich vollzieht, der sich veränderter Bestrah-
lung, Temperatur, Nahrung oder Lebensgemein-
schaft anzupassen gezwungen ist, das erblicken wir
sinnlichen und geistigen Auges, bis in die feinsten
Einzelregungen zergliedert, in einer Volksgemein-
schaft, deren Anfangszustand gegeben, deren End-
zustand bestimmt ist. Sollte dieser Endzustand
bezeichnet sein durch den komplexen Begriff, den
38
wir Mechanisierung genannt haben, so wird der
Weg des Geistes von der Naturbetrachtung zur
Naturberechnung führen, der Weg der Wirtschaft
vom Einzelbetrieb zur Organisation, der Weg der
Arbeit vom Handwerk zur Technik, der Weg der
PoHtik vom Territorialbesitz zum Nationalstaat;
und die geschichtliche Betrachtung wird staunend
verzeichnen, wie an jeder Wegkreuzung, von den
tiefsten Mächten emporgesandt, ein genialer Geist
ersteht, um der Menge die Richtung ihres unbe-
wußten Willens zu weisen, der sie zürnend folgen muß .
Wird dies anerkannt, so bedarf es nicht mehr der
Frage, ob und wieweit die Forschung in den letzten
Jahrhunderten den Geist der Neuzeit bestimmt
habe: wenn Kepler und Newton Himmelsgesetze
niederschrieben, so waren sie in sich nicht minder
frei und vom Genius getragen, indem sie doch dem
Willen zu neuen Produktions- und Lebensgesetzen
gehorchen mußten, der, um Tatsächlichstes zu
erzeugen, der Tatsache und ihrem Gesetz neuartigen
Wert verlieh.
Zweite Anmerkung
Der Anbruch der neuen Zeit
Versucht man, den Vorgang der Umlagerung
sich zu vergegenwärtigen, an den unsre Ge-
schichte sich aufreiht, so muß man auf die Vor-
stellung verzichten, es könne der Rassenkampf im
wesentlichen unter dem sinnfälligen Bilde von
Aufständen, Revolutionen oder Verschwörungen
erblickt werden. Denn nicht einmal die Kämpfen-
den selbst waren sich des Kampfes bewußt. Die
einen verteidigten als Erben Rechte, Vorteile,
39
Ehren und Besitztümer, nach denen die andern
als Erblose die Hände ausstreckten; und da weder
Kämpfer noch Bekämpfte ihre, unsern Augen doch
so sichtbaren Rassenmerkmale deuteten, vielmehr
beide eines Landes, einer Sprache und eines Glau-
bens waren, so erblickten sie ihre bald ruhende, bald
erwachende Feindschaft unter dem Licht gegneri-
scher Interessen, ständischer Gegensätze und erb-
licher Mißbräuche. Überdies sind innere Rassen-
kämpfe reich an friedlichen Eroberungen; denn das
Ziel ist nicht Vernichtung, sondern Angleichung
und Vermischung. Jede Mißehe, jede Deklassierung,
jede Rangeserhöhung ist ein Sieg und eine Niederlage.
Dennoch sind große Episoden des Gesamt-
kampfes auch der chronistischen Geschichtsbe-
trachtung erkennbar : das Ringen um freien Grund-
besitz, Vormacht der Kirche, Feudalrechte des
Adels, Herrschaft der Zünfte, evangelische Freiheit,
Leibeigenschaft, Ablösung der Lasten, Gewerbe-
freiheit, Freizügigkeit; ja selbst die ersten Kämpfe
um die erbliche Macht des Kapitals sind sichtbare
Einzelkampagnen, zum Teil Nachgefechte des
großen Rassenkrieges, dessen letzte Entscheidung
erst um die Wende des XVHL Jahrhunderts fiel.
In dem Zeitalter, das etwa mit dem Leben
Goethes zusammenfällt, liegt die Schilderhebung
der Unterschicht des deutschen Volkes beschlossen.
Man vergleiche, was der Frankfurter Bürgersohn
im Werther und im ersten Teil des Meister über
die Beschränkung des Bürgerstandes schrieb, mit
dem, was sechzehn Jahre nach seinem Tode in der
Paulskirche seiner Vaterstadt gesprochen wurde:
zwischen diesen Zeitgrenzen liegt Deutschlands
Umschwung.
40
So konnte denn auch nach dem Gesetz der Ener-
giebefreiung, das zu Eingang beschrieben wurde,
dieser Zeitlauf eine Kulturepoche emportragen
wie sie nie zuvor der Erde beschieden war, und deren
Glanz erst späte Geschlechter voll erfassen werden.
Sie offenbart, wie wenig die Naturvorgänge des
Völkerlebens von Konstellationen der Zeitgeschichte
sich meistern oder unterdrücken lassen. Denn aus
einer Periode tiefsten politischen Niederganges
bricht sie hervor — für rein historische Betrach-
tung ein unlösbares Rätsel — und schwindet mit
dem Erstarken des Wohlstandes, der Freiheit und
der Macht. Mit ihrem Höhepunkte können nur
zwei frühere Kulturepochen sich messen, die im
Aufstieg der bildenden Künste sie übertreffen, in
der Vertiefung der Dichtkunst, der Musik, der wissen-
schaftlichen und philosophischen Forschung und der
politischen Einsicht sie nicht von fern erreichen : das
Perikleische und das Leoninische Zeitalter.
Sicher aber ist zu keiner früheren Zeit eine so
gewaltige Zahl ungewöhnlicher Menschen auf engem
Bezirk hervorgetreten, wie damals in Deutschland
und — auf andern Gebieten, entsprechend dem
politisch gefärbten Umschwung — in Frankreich.
Die übrigen großen Kulturländer hatten die Voll-
endung ihrer Umschichtungen weit früher erlebt:
Italien im XV. und XVI., England und die Nieder-
lande im XVI. und XVII. Jahrhundert.
Seit jener großen Epoche aber, die als eine ge-
waltige Morgendämmerung die Neue Zeit empor-
führte, sind, wie das Gesetz es will, neue geistige
Faktoren in das Leben der Nation nicht mehr ein-
getreten. Sprache, Gedanken, Politik und Kunst
haben nur noch im internationalen Austausch wirk-
41
liehe Bereicherung erfahren; im übrigen sind sie
trotz mancher AbsonderHchkeiten einheitlicher,
ja einförmiger in Rhythmus und Kinetik geworden
und haben sich damit den Anforderungen der Neuen
Zeit, ihren unaufhörlich wechselnden und dennoch
innerlich gleichbleibenden Aufgaben und Gegen-
ständen vollkommen angepaßt.
DIE MECHANISIERUNG DER WELT. I
Aufgabe, Begriff und Mittel
Gegeben ist die Größe der menschlichen Einzel-
leistung, gegeben die bewohnbare Erdober-
fläche, gegeben, aber praktisch fast unerschöpf-
lich und nur an den menschlichen Arbeitseffekt
gebunden, die Menge der greifbaren Rohstoffe,
praktisch unermeßlich sind die verwertbaren Natur-
kräfte. Aufgabe ist es nun, für die zehnfach, hun-
dertfach sich vermehrende weiße Bevölkerung Nah-
rung und Gebrauchsgüter zu schaffen.
Die Alten, in engerer Begrenzung und weiterer
Welt lebend, wußten sich leichten Rat : sie sandten
Kolonen in ein Nachbarland und schufen sich
Verdopplungen ihrer Vaterländlein. Auch in un-
serer Zeit sind Auswanderer zu Millionen aus ihrer
Heimat gedrängt worden; sie haben die Bevölke-
rungsdichte fast aller für Weiße bewohnbaren
Länder auf ein nahezu europäisches Maß gebracht,
ohne daß die Volksvermehrung der Alten Welt um
ein merkliches gehemmt worden wäre.
Andern Rat, vielleicht den verruchtesten, der
je der Menschheit zugerufen wurde, gab Malthus;
42
die natürlichen Quellen des Lebens zu hemmen
und die Nachkommenschaft widernatürlich zu
beschränken. Das einzige Land, das diesen Weg
beschritten hat, Frankreich, ist im Begriffe, daran
zugrunde zu gehen.
So blieb den alten Völkern nur eines übrig : zu gänz-
lich neuen Gewohnheiten und Gesetzen des Lebens
und Schaffens überzugehen, zu dem Zweck, die irdi-
sche Produktion auf das gewaltigste zu vermehren und
sie der Milliardenzahl der Menschheit anzupassen.
Dies war nur auf einem Wege möglich : wenn der
Effekt der menschlichen Arbeit um ein Vielfaches
gesteigert und gleichzeitig ihr Erzeugnis, das produ-
zierte Gut, auf das vollkommenste ausgenutzt
werden konnte. Erhöhung der Produktion unter
Ersparnis an Arbeit und Material ist die Formel,
die der Mechanisierung der Welt zugrunde liegt.
Um die Steigerung des Arbeitseffektes zu wür-
digen, wolle man erwägen, daß alles zweckbe-
stimmte Handeln und Geschehen nur zu einem
Teil dem Zwecke dient. Ein andrer Teil — in
der Regel weitaus der größere — , sei er vorbereiten-
der, begleitender, schützender oder ungewollter
Art, dient dem Zweck nur mittelbar oder überhaupt
nicht und schädigt den Wirkungsgrad. Ein Analoges
gilt von den Beimengungen, Spaltungsprodukten,
Abgängen der Materie. Nun ist es einleuchtend,
daß viele dieser Effektverluste nur von der Handlung
selbst, nicht von ihrem Umfange abhängen, daher
mit wachsender Leistung an Bedeutung verlieren.
Wenn ich einen Brief zur Post trage, kostet dieser
Brief mich fünf Arbeitsminuten; trage ich sechzig
Briefe auf einmal zur Post, so kostet mich jeder
fünf Arbeitssekunden. Ja, ich kann es ermöglichen,
43
den gesamten Briefverkehr einer Kleinstadt zu
bewältigen, wenn ich mich als Briefträger den
ganzen Tag über ausschließlich dieser Aufgabe
widme. Verbrauche ich einen Zentner Kohlen, um
einen Dampfkessel anzuheizen, so bleibt der Ver-
lust der gleiche, ob ich nun den Kessel fünf oder
zehn Stunden im Betrieb halte; bei ununterbro-
chenem Betriebe aber würde der Anheizverlust
jede Bedeutung verlieren.
Es besteht also die Möglichkeit, den Wirkungsgrad
von Vorgängen und die Ausnutzung von Materialien
erheblich zu verbessern, indem man Gelegenheit
für möglichst große Mengen gleichartiger und ein-
facher Nutzhandlungen sammelt, um dieselben
ununterbrochen auszuüben — dies ist die Arbeits-
teilung, auf der die alte Methode der Manufaktur
beruht — , oder indem man den Einzelvorgang in
seinem Kraft- und Massenumfang steigert, ein
Verfahren, das man Arbeitshäufung nennen und
als die Grundlage der neuzeitlichen Fabrikation
ansprechen könnte.
Die Hilfsmittel dieser doppelten Übung der
Effektsteigerung sind Organisation und Technik.
Organisation, indem sie Produktion und Verbrauch
durch Unterteilung, Vereinigung und Verzweigung
in die gewollten mechanischen Bahnen lenkt, Tech-
nik, indem sie die Naturkräfte bändigt und sie
bald in gewaltigen Massenbewegungen, bald in
chemischen Wirkungen, bald in elektrischen Strö-
men, bald in mechanisch kunstfertigen Handgriffen
den neuen Produktions- und Verkehrsorganisa-
tionen ausliefert.
Daß somit nicht die Technik oder der Verkehr
Ursache der Mechanisierung und. somit der neu-
44
zeitlichen Lebensverfassung sein konnte, vielmehr
die Volksverdichtung zur Mechanisierung drängte,
die ihrerseits neue Hilfsmittel verlangte und schuf,
darf in Einschaltung nochmals ausgesprochen v^er-
den. Diesen Zusammenhang verkennen hieße nichts
andres als etwa behaupten: die Eisenbahn habe
den Großverkehr oder das Zündnadelgewehr habe
den Massenkrieg geschaffen. In Wirklichkeit schafft
der Wille zum Verkehr sich seinen Weg, der Wille
zum Massenkrieg sich sein Geschütz ; das Werkzeug
ermöglicht das Werk, doch bleibt es selbst ein Ge-
schöpf des auf das Werk gerichteten Willens.
Den Ursprung der Mechanisierung aus der Ver-
dichtung, ihre Anfänge, ihren Verlauf und ihre
Welteroberung historisch zu schildern, ist Aufgabe
späterer Geschichtschreibung. Hier seien in kürze-
sten Zügen nur einige Staffeln verzeichnet; denn
die Absicht dieser Darstellung richtet sich dahin,
nicht sowohl den Vorgang als die Wirkungen der
Verdichtung und Umschichtung, der Mechanisie-
rung und Entgermanisierung auf die Welt, die
Menschen und das Leben unsrer Zeit zu erörtern.
Mit dem ersten Tausch, der auf Erden stattfand,
war die Einzelwirtschaft durchbrochen und zwei
neue Begriffe geschaffen: des Tausch Vorrates und
der Spezialisierung. Je dichter nun die angehenden
Spezialisten aneinander heranrückten, je häufiger
sie sich begegneten, desto mehr konnten sie sich
auf die wechselseitigen Vorräte verlassen. Zuletzt
konnte der eine die Erzeugung dessen einstellen,
was der andre besaß : er konnte Korn gegen Vieh,
Vieh gegen Erz tauschen. Verdichtete sich die
Bevölkerung abermals, so lernte man neue Gegen-
stände kennen; es lohnte sich, reich zu sein: aus dem
45
Vorrat wurde Kapital. Der Spezialist wurde ge-
sucht, er fand Aufträge; aus Anlage und Kenntnis
entstand der Beruf.
Nun war man aufeinander angewiesen; die Begehr-
lichkeit der Weiber, die Freigebigkeit der Männer
mag das ihre beigetragen haben: man tauschte
und handelte, betrieb Wirtschaft und Handwerk;
die Anfänge der wechselseitigen Gütererzeugung
waren gegeben. Aber noch konnte ein Mürrischer
oder Selbstzufriedener, ein Gegner des Neuen, sich
abseits halten. Verzichtete er auf kunstvolle Güter,
auf mannigfaches Werkzeug, so mochte er mit Pfeil
und Speer, mit Pflug und Hacke ins Weite ziehen
und sich von der Gesamtwirtschaft befreien. Mit
zunehmender Dichte wird auch diese Freiheit be-
nommen. Jetzt bedarf ein jeder des Schutzes; er
muß Mitglied einer Gemeinschaft sein. Der Sitte
kann er sich nicht entziehen, sie verlangt Kleidung
und Behausung und manches andre. Land zu
erschließen ist ihm versagt; er muß Eigentum achten,
auf dem Seinen haushalten, somit nachhaltiger
wirtschaften, mit Geräten und Werkzeugen, die
beschafft sein wollen. Doch schon ist die Ver-
dichtung vorgeschritten, die Scholle beschränkter,
die Wirtschaft schwieriger und einseitiger. Um
den ganzen Bedarf an Lebensgütern zu erlangen,
muß verkauft, muß Absatz gesucht werden. Die
Wirtschaft wird zum Unternehmen, zum Geschäft.
Der Absatz stellt sich ein und mit ihm die Konkur-
renz. Eine Zeitlang können Zunftbestimmungen
und mangelhafte Verkehrswege den Handwerker
und Landwirt vor der Geißel des Wettbewerbs
schützen. Unter der ständigen Verdichtung der
Produktion macht sie sich denn doch fühlbar.
46
Und trotz der gleichzeitigen Konzentration des
Konsums kann keiner froh werden : denn die Erzeu-
gungsmethoden sind noch immer primitiv, sie
nötigen der Erde nicht genügend Stoffe ab, um die
Gesamtheit zu befriedigen, die Arbeit wird hart,
man leidet Not. Doch eben hat ein erfinderischer
Kopf ein Werkzeug erfunden, ein Erzeugnis ver-
bessert, ein Verfahren vereinfacht. Der Teufelskerl
wird reich, die andern sehen's und empfinden ihre
Not verdoppelt. Nun sind sie alle dem Wettlauf
der Konkurrenz verfallen, der technischen, der
kommerziellen, der kapitalistischen Konkurrenz.
Nun werden alle Künste und Wissenschaften herbei-
gerufen; die Erfindungsreichen, Kühnen, Vor-
urteilsfreien, die Habsüchtigen, die Ehrgeizigen,
die Handfesten eilen voran; die Schwachen bleiben
am Wege liegen, sie werden eingefangen und als
Troß mitgezogen. Und unter den Tritten dieses
Reigens schwitzt die Erde aus allen Poren und läßt
an Gütern den zehnfach vermehrten Enkeln das
Hundertfache dessen emporströmen, was sie den
Ahnen kärglich gewährte, sich zu nähren, zu
wärmen, zu schmücken und zu berauschen.
Wenn somit die Mechanisierung ursprünglich
in der Gütererzeugung wurzelt, so blieb sie nicht
lange auf dies Gebiet beschränkt. Freilich bedeutet
dieses noch heute den Stammbezirk ihrer Verzwei-
gung und Überschattung; denn die Gütererzeu-
gung bleibt das zentrische Gebiet des materiellen
Lebens, dasjenige, mit dem sich alle übrigen in
mindestens einem Punkt berühren.
Mechanisierung aber erblicken wir, wohin wir
auch über die Provinzen menschlichen Handelns
das Auge schweifen lassen; allerdings treten ihre
47
Formen derartig verwickelt und vielgestaltig auf,
daß es vermessen dünkt, den ganzen Umriß des
ruhelos bewegten Bildes zu umfassen. Dem wirt-
schaftlich Betrachtenden erscheint sie als Massen-
erzeugung und Güterausgleich; dem gewerblich
Betrachtenden als Arbeitsteilung, Arbeitshäufung
und Fabrikation; dem geographisch Betrachtenden
als Transport- und Verkehrsentwicklung und Koloni-
sation; dem technisch Betrachtenden als Bewälti-
gung der Naturkräfte; dem wissenschaftlich Betrach-
tenden als Anwendung der Forschungsergebnisse;
dem sozial Betrachtenden als Organisation der
Arbeitskräfte; dem geschäftlich Betrachtenden ak
Unternehmertum und Kapitalismus; dem politisch
Betrachtenden als real- und wirtschaftspolitische
Staatspraxis.
Gemeinsam ist aber allen diesen Erscheinungs-
formen ein Geist, der sie seltsam und entschieden
von den Lebensformen früherer Jahrhunderte
unterscheidet: ein Zug von Spezialisierung und
Abstraktion, von gewollter Zwangsläufigkeit, von
zweckhaftem, rezeptmäßigem Denken, ohne Über-
raschung und ohne Humor, von komplizierter
Gleichförmigkeit: ein Geist, der die Wahl des Na-
mens Mechanisierung auch im Sinne des Gefühls-
mäßigen zu rechtfertigen scheint.
Dritte Anmerkung. Scheinbares Paradox
Warum haben ältere Verdichtungsprozesse,
deren die Geschichte eine Anzahl kennt,
niemals zu einer ausgesprochenen, der unsern
vergleichbaren Mechanisierung geführt ? Sagt man
doch, daß die Menschheit jeden uns denkbaren
48
Gedanken schon einmal gedacht habe: warum hat
sie dies Gedankenphänomen unsrer, im übrigen
keineswegs so bevorzugten Epoche aufgespart ?
Hier ist zunächst zu erinnern, daß keine der alten
Volksverdichtungen, relativ und absolut gemessen,
sich mit neuzeitlich okzidentalen Verhältnissen
vergleichen läßt. Ägypten und Mesopotamien
waren nicht übervölkert, Griechenland und Italien
nach unsern Begriffen arm an Einwohnerzahl.
Vor allem aber wirkt das Mittclmeerklima in
einem Sinne verzögernd auf die Zivilisation, indem
es die menschlichen Bedürfnisse an Nahrung, Ob-
dach und Kleidung gleichzeitig mäßigt und leicht
befriedigt. Selbst in den heutigen trocken und un-
fruchtbar gewordenen Ländern dieser Zone bleibt
der Lebenskampf vergleichsweise harmlos und
spielend, weil Ertrag und Bedarf noch immer in
glücklicherem Verhältnis sich die Wage halten.
So stehen selbst in unsern Tagen die Mittelmeer-
völker mit einer mehr kindlichen als nothaften
Begehrlichkeit dem Ansturm unsrer Warenmassen
gegenüber; ihre Produktionsmethoden sind, wenn
man vom nördlichen und mittleren Italien absieht,
nur in bescheidenem Umfang mechanisiert, und
den übrigen Mechanisierungsformen haben sie halb
widerwillig halb kindlich nachahmend Aufnahme
gewährt. Süditalien und Griechenland stehen noch
heute trotz Eisenbahnen und Telegraphen dem
antiken Leben näher als dem modernen.
Dennoch zeigte das Rom der späten Republik
und der Kaiser^eit deutliche Anfänge der Mechani-
sierung, und es ist lehrreich, zu prüfen, weshalb
diese Lebensform in ihrem Vordringen gehemmt
wurde.
1.4 49
Großbetriebe waren vorhandeiij ja ein Welthandel
und eine kapitalistische Ordnung des Besitzes aufge-
kommen. Zur Fortentwicklung des mechanistischen
Prinzips hätte es nun vornehmlich dreier Dinge
bedurft : einer Vervollkommnung der metallurgischen
Technik, insbesondere der Eisen- und Stahl-
erzeugung, einer Weiterbildung der Präzisions-
mechanik, und der Konstruktion einer Kraftmaschine.
Diese Aufgaben waren nur zu lösen auf Grundlage
messender Naturerforschung. Der Römergeist, der
mit empirischer Technik ungeheure architektonische
Aufgaben zu lösen gewohnt war, hätte den strengen
Anforderungen dieser Disziplinen genügt, obwohl
ihm pragmatisches Denken vertrauter war als stilles
Beobachten. Schwieriger wäre es in jener Epoche
gewesen, die Hunderte von forschenden und ent-
deckenden Geistern, deren die Ausbildung dieses
Wissenszweiges bedurfte, unter der kleinen Zahl
von bildungsliebenden Italikern aufzutreiben. Sollte
diese Abkehr des Römertums vom Markt, Tribunal
und Heerlager zur Gelehrtenstube und zum Labora-
torium erzwungen werden, so bedurfte es einer Not.
Diese Not aber war nicht vorhanden. Denn Rom
war gewohnt, die Völker des Erdkreises für seine
Erhaltung sorgen zu lassen ; wo ein Prokonsul genügte,
um Attalidenschätze nach der Hauptstadt zu leiten,
bedurfte es keiner Exportfabrikationen. Die an sich
nicht beträchtliche Nahrungsbeschränkung durch
Bevölkerungsverdichtung war mehr als ausgeglichen
durch eine Hoheit, welche die Gesamtheit des
herrschenden Volkes zum Souverän erhob und mit
auskömmlichen Zivillisten versah.
Wenden wir den Blick außereuropäischen Ver-
dichtungszentren zu, so scheinen in China die gün-
50
stigsten Voraussetzungen für mechanisierte Wirt-
schaft gegeben zu sein: große Masse und Dichte
einer Bevölkerung, die ausreichende bürgerliche
Freiheiten genießt und von der Natur des Landes
nicht' allzu leichtfertig über den Lebenskampf hin-
weggehoben wird. Und wirklich geben die Tat-
sachen den Voraussetzungen recht: außerhalb der
kaukasischen Rassenzone umschließt China mit
seinem kulturellen Tochterlande Japan das einzige
Gebiet der Erde, auf dem eine eigene großangelegte
Technik erwuchs, ja eine Technik die ganz be-
sonders die uns vertrauten verkehrhaften Züge auf-
weist. Als ein Geschenk Chinas ist vor wenig mehr
als hundert Jahren die vergessene Kunst de» Heer-
straßenbaus uns neu beschieden worden.
Bis in die Mitte des XVI IL Jahrhunderts war
China an technischen und organisatorischen Erfah-
rungen dem Durchschnitt Europas ebenbürtig;
aber die Keime überflügelnder Entwicklung lagen
im westlichen Boden. Daß den klügsten und tätig-
sten Orientalen so wenig wie den Römern das
Geheimnis der messenden und rechnenden Wissen-
schaft sich erschloß, befremdet nicht, wenn man
erwägt, welche seltenen, ja widersprechenden Gei-
stesstimmungen zusammentreffen müssen, damit
systematische und exakte Forschung möglich sei.
Ein ideal gerichteter, dem Gesetzmäßigen offener
Sinn muß transzendenter Betrachtung entsagen,
sich mit Liebe dem Tatsächlichen, ja dem scheinbar
Nebensächlichen zuwenden, um in lebenslanger
Arbeit, Korn für Korn, das Bleibende vom Zufälligen
zu sondern, ohne Hoffnung, selbst jemals des Welt-
symbols teilhaftig zu werden, das aus der reinen
Saat erblühen soll. Umgekehrt bedarf es, damit die
Forschung sich In Technik verkörpere, praktischster
Geister, die dennoch zu den abstraktesten Gebieten
der Wissenschaft sich erheben, um mit promethei-
schem Griff das dem irdischen Bedarf Bestimmte
herabzuholen. Dem Verlauf der Darstellung vor-
greifend sei hier bemerkt, daß in einer Zivilisation,
die der Mischung aus germanischer Idealität mit
vorgermanischer Zähigkeit und Handfertigkeit ent-
sprang, diese seltenen, vielleicht nicht wiederkehren-
den Voraussetzungen einer Wissenschaft und wissen-
schaftlichen Technik gegeben waren. Daß die man-
dschurisch-mongolische Zivilisation die gleichen
Vorbedingungen nicht erfüllte, entschied die Frage
der technischen Welthegemonie zugunsten des» west-
lichen Dichtigkeitszentrums. In gleichem Sinne
wird sich dereinst die Frage der politischen
Hegemonie entscheiden, der man die kindlich ge-
hässige Bezeichnung einer gelben Gefahr gegeben
hat. Erweist sich der Westen auch in Zukunft
stärker ideenbildend als der ferne Osten, der in
jüngeren Zeiten diese höchste Kraft nicht mehr
besessen hat, so wird er auch weiterhin die Ver-
antwortung der Weltentwicklung tragen.
Zusammenfassend dürfen wir die Zwischen-
frage: warum Mechanisierung bisher auf Erden
nirgend anders als im germanischen Zentrum auf-
getreten sei, folgendermaßen beantworten. Erfor-
derlich war das Zusammentreffen stärkster Volks-
verdichtung mit zwei auslösenden Faktoren:
gemäßigten physikalischen Bedingungen, welche
bei zunehmender Dichte die Sorge um den Unter-
hatl empfindlich machten, sodann spezifischen
sittlich-geistigen Werten, welche imstande waren,
technisch-methodische Hilfsmittel zu schaffen. Die
5^
alten Mittelmeerkulturen scheiden aus, denn es fehlte
ihnen fast durchweg an der Hauptbedingung, aus-
nahmslos am ersten der beiden auslösenden Fak-
toren. China konnte eine gewisse Mechanisierungs-
arbeit leisten, bis im entscheidenden Moment der
intellektuale Faktor versagte. Der zentraleuro-
päischen Kultur war es vorbehalten, alle Bedin-
gungen zu erfüllen und die Mechanisierung bis
in die letzten uns bekannten Folgen durchzuführen.
DIE MECHANISIERUNG DER WELT. II
Mechanisierung der Produktion
Von allen Teilen der Erdoberfläche strömen
die Urprodukte mineralischer und organischer
Abkunft auf eisernen oder wässernen Wegen in die
Sammelbecken der Städte und Häfen. Von dort
verzweigen sie sich nach den Verarbeitungsstätten,
wo sie in vorbestimmter Mischung eintreffen, um
chemisch oder mechanisch umgestaltet als Halb-
produkte einen zweiten Kreislauf zu beginnen.
Von neuem getrennt und abermals vermischt und
bearbeitet erscheinen sie als Verbrauchsgüter, die
zum drittenmal geordnet in den Lagern der Groß-
händler sich vereinigen, bevor sie die fein ver-
zweigten Wege zum Kleinhändler und endlich zum
Verbraucher finden, der sie in Abfallstoffe ver-
wandelt und in den Gestaltungsprozeß zurück-
sendet. Dem Blutumlauf vergleichbar ergießt sich
der Güterstrom durch das Netz seiner Arterien
und Adern. In jedem Augenblick des Tages und der
Nacht donnern die Schienen, lauschen die Schiffs-
53
schrauben, sausen die Schwungräder und dampfen
die Retorten, um die Last dieses Umlaufs zu er-
neuern und zu bewegen.
Und was ist das Geschick der Materien in den
Mägen der Verarbeitung ? Sie werden von Mecha-
nismen ergriffen, gelöst, erhitzt, zerstampft oder
gepreßt, zerschnitten, gehämmert, gezogen oder
gewalzt, gesponnen, gezwirnt, verwoben oder ge-
tränkt; ein zweiter, ein dritter Maschinenprozeß
schließt sich an, und der Mensch überblickt ord-
nend, beschleunigend, messend sein Werk, das
Werk nicht mehr seiner Hände, sondern seiner
Mechanismen. Ist eine Formung durch Hand-
fertigkeit noch vonnöten, so ist das Gesetz der
Produktion unvollkommen erfüllt. Dies Gesetz
lautet: Beschleunigung, Genauigkeit, Verminde-
rung der Reibung, Einheitlichkeit und Einfachheit
der Typen, Ersparnis an Arbeit, Verminderung
und Rückgewinnung des Abfalls. Da, wo ein Teil
der Prozesse den Schöpfungsakten der Natur über-
lassen werden muß, fühlt man sich berechtigt,
von ihr die gleiche Beschleunigung und Genauig-
keit, die gleiche Reaktionsfähigkeit auf Reize und.
Disziplin zu verlangen wie von leblosen Mecha-
nismen und Prozessen.
Und die Natur gehorcht. Sie, die Erzeugerin
der Urmaterien, ist sich des Ernstes und Umfanges
ihrer Aufgaben bewußt geworden. Nicht mehr
lächelnd und spielend wie ehedem, sondern ernst
und geschäftig läßt sie ihre Felder das zehnfache
Maß tragen, läßt sie ihren Flanken das Tausend-
fache an mineralischen Werten entströmen. Ja,
sie gibt zu erkennen, daß sie es nur der mensch-
lichen Arbeit und Begehrlichkeit anheimstellt,
54
die lebenden und toten Ernten nochmals zu verviel-
fachen. Keines der heute geschätzten Güter scheint
vorerst auf die Neige zu gehen; allenthalben winkt
und blinkt es noch von ungehobenen Schätzen an
Materie und Kraft.
Die Menschheit hat es begriffen und eilt ihrem
Produktionsideal entgegen. Dies Ideal ist erreicht,
wenn von den jeweils günstigsten Gewinnungs-
stätten die Produkte auf kürzestem Wege und mit
größter Eile zu der bestgelegenen Verarbeitungs-
stätte gelangen, um in einem einzigen Prozeß um-
gestaltet sofort einem Vertriebssystem übergeben
zu werden, das sie in die Vorratsräume, Küchen
und Werkstätten der Verbraucher leitet.
Zuweilen scheint es, als beginne die Güterpro-
duktion, über ihr Ziel hinausschießend, über-
flüssige, nicht mehr verzehrbare Mengen zu för-
dern. Ständig wachsende Massen von Rohstoffen
und Fabrikaten schleudern die Länder im Wechsel-
spiel einander zu. Hier Erze gegen Kohlen, Baum-
wolle gegen Getreide, Vieh gegen Eisen, Holz
gegen Zucker; und dennoch wird dies gewaltige
Werben und Spenden nicht nachlassen, denn immer
noch wächst die Zahl der Erdenbewohner, und
immer noch sind Millionen von Händen nicht nach-
haltig genug in den Schaffensprozeß verstrickt,
um ihr Teil am Begehrten zu erraffen.
Wohin ergießt sich nun diese Güterflut ? Wir
finden sie in den Speichern der Häfen, in den Vorrats-
räumen der Fabriken und Handlungen, wir finden
sie in Läden und Kaufhäusern. Das Berlin von
1811 besaß im Umkreise seiner Mauern nicht so
viel an Ladengütern wie ein einziges Häuserviereck
des Berlins von 1911. Aus den Magazinen fließt
55
der Strom in die Behausungen der Menschen.
Ungezählte Substanzen, die man ehedem nicht
kannte, Metalle, Gläser, Hölzer, Tonwaren, Papiere,
Leder, Bein, Gewebe, alles bedeckt mit farbigen
Schichten, Polituren und Ornamenten, füllen die
Gemächer; Seifen, Essenzen, Chemikalien sind
vorrätig, Nahrungs- und Genußmittel aus allen
Erdteilen werden gespeichert; selbst in den Woh-
nungen der Schwachbemittelten, ja der Armen
finden sich Menge und Mannigfaltigkeit der Gerät-
schaften und Verbrauchsgüter seit den letzten
drei Generationen um ein Vielfaches vermehrt.
Fast möchte man meinen, die Menschheit sei von
einem Taumel des Warenbesitzes, von einer Geräte-
tollheit befallen, die man in früheren Zeiten viel-
leicht gewissenlosen Spekulanten oder auf Ablenkung
bedachten Regierungen zur Last gelegt hätte.
Und noch immer ist Begehr und Lust nach käuf-
lichen Dingen im Steigen, zumal bei Frauen.
Ihr passiver Anteil am Produktionswachstum ist
nicht unbeträchtlich. Denn ihre naivere Freude
am feilen Besitz und am Vergleich des Besitzes
setzt zahllose Gewerbe in Bewegung, und ihr ge-
ringeres Interesse für Struktur und Konstruktion
kommt der eigenartigen Qualitätsverschiebung des
modernen Erzeugnisses in erstaunlicher Weise
entgegen. Mit dieser Verschiebung aber hat es
folgende Bewandtnis.
Jeder, der ein Erzeugnis des alten Handwerks in
Händen hält, etwa ein Buch, eine Truhe, einen
Schlüssel, empfindet an diesen Gegenständen etwas
Organisches, wie es den Schöpfungen der Natur
eignet. Das Werk ist genau gearbeitet, aber nicht
mathematisch. Der Naturstoff, dem es entstammt,
56
ist geformt, aber nicht verwandelt. Es besitzt eine
innere Festigkeit, die den Einwirkungen des Ge-
brauchs und der Zeit widersteht und ihnen doch
einen seltsam verschönernden Einfluß gestattet.
Es ist selbst im größten Reichtum sparsam, denn
es ist ein durchdachtes, für sich alleinstehendes
Werk, ein Stück Menschennatur.
Die Maschine kann dergleichen nicht schaffen.
Sie erzeugt mathematische, schnurgerade, kreis-
runde, spitze, scharfe, polierte Dinge, die sich nicht
abschleifen, sondern schartig werden. Sie spart am
Material, aber sie knausert nicht mit Ornament,
denn dies macht ihr keine Arbeit. Auch überträgt
sie gern praktisch erwiesene Kunstgriffe von einer
Materie, von einer Form auf die andre. Sie formt
mit gleicher Unbeteiligtheit ein Gebetbuch und
eine physikalische Wage. Vor allem aber setzt sie
an die Stelle der Dauerhaftigkeit die bequeme Er-
neuerung. Hausgesponnenes Linnen und Papier-
servietten sind Sinnbilder dieses Gegensatzes.
An die Stelle des Anschaffungswertes setzt die
Mechanisierung den Verbrauchswert, an die Stelle
des Zinsverlustes die Neubeschaffung. Der Luxus
unsrer Zeit ist nicht Kapitalsaufwand, sondern
Rentenaufwand. •
Durchaus verständlich! Denn die Mechani-
sierung will produzieren. Reparaturwerkstätten
sind ihr kostspieliger als Fabriken; anstatt zu flicken,
schmilzt sie um. Hier kommt ihr ein psychologischer
Kreislauf zunutze; die Möglichkeit des Wechsels
erzeugt den Wunsch nach Wechsel, dieser Wunsch
wiederum unterstützt das Erneuerungsprinzip.
Ein Weiteres tritt hinzu. Die alten Stoffe waren
nicht abstrakt rein. Die Erze, die Gewürze, die
57
Farben, die Erden enthielten Beimengungen, deren
Störendes kunstreich überwunden war, und die nun
dem Gefühl, dem Blick, dem Geruch und Ge-
schmack etwas Getöntes, Abgestuftes, Anheimeln-
des gaben. Die mechanisierte Produktion nennt diese
Zutaten Verunreinigung und hat nicht viel Mühe,
sie auszuscheiden. Sie hält uns das duftende Prinzip
des Veilchens kristallisiert unter die Nase und läßt
keine Einwendung zu. Sie schafft Extrakte, Rein-
kulturen, Normative. Aber solche Produkte ohne
eigenes Leben, ohne Milderung überreizen und
ermüden. So führen sie abermals zum Wechsel
und nebenher, da sie nun einmal ihre Seele ver-
loren haben, zum Surrogat.
Zeigen nun diese Künstlichkeiten, teils überrein,
teils flüchtig naturalisiert, teils nachgeahmt, teils
appretiert, eine Teufelsschönheit im Schimmer
der Neuheit, in dem, was ein Geschäftswort die
Aufmachung nennt, und in einer gewissen Keckheit
der rasch erdachten Form, so blüht diese Frische
schnell dahin; und alsbald klopft das mechanisierte
Schicksal, die Mode, an die Tür und weist das früh
gealterte Geschöpf in den Vorstadtwinkel, in die
Provinz, nach Südamerika und zuletzt nach Afrika,
um der Produktion neue Arbeit zuzuweisen.
So schafft die Mechanisierung sich selbst un-
geheuerste Hilfskräfte in dem Warenhunger der
Menschen, in der Irrealität, Leblosigkeit und
Schattenhaftigkeit ihrer Produkte und in der
Mode.
Doch was ist dieser ephemere Umlauf der Ge-
brauchsgüter im Vergleich zu jenem zweiten,
anhäufenden, den die Mechanisierung zeitigt!
Denn die Menschheit verbraucht nicht alles, was
58
sie schafft; einen großen Teil ihrer Güter speichert
sie auf. In welcher Form ? Sie baut.
Sie baut Häuser, Paläste und Städte; sie baut
Fabriken und Magazine. Sie baut Landstraßen,
Brücken, Eisenbahnen, Trambahnen, Schiffe und
Kanäle; Wasser-, Gas- und Elektrizitätswerke,
Telegraphenlinien, Starkstromleitungen und Kabel;
Maschinen und Feuerungsanlagen. Sie bessert
Ländereien, entwässert, reguliert und deicht.
Es ist schwerer, sich eine sinnliche als eine zahlen-
mäßige Vorstellung vom Umfange dieser Bauten
zu machen, die sich für Deutschland jährlich
auf mehrere Milliarden belaufen. Schätzungs-
weise könnte man annehmen, daß die alljährlichen
Erweiterungen Berlins etwa der Wertbewegung
gleichkommen, die zum Bau des Perikleischen Athen
erforderlich waren. Die Neubauten der deutschen
Städte dürften etwa alle fünf Jahre einen Wert
erreichen, der an mechanischem Aufwand dem
Bauwert des kaiserlichen Rom gleichkäme.
Wozu dienen nun diese unerhörten Bauten ?
Zum großen Teile dienen sie direkt der Produk-
tion. Zum Teil dienen sie dem Verkehr und Han-
del, somit indirekt der Produktion. Zum Teil dienen
sie der Verwaltung, der Wohnung, der Gesundheits-
pflege, somit vorwiegend der Produktion. Zum
Teil dienen sie der Wissenschaft, der Kunst, der
Technik, dem Unterricht, der Erholung, somit
indirekt, und mit einiger Einschränkung, noch
immer der Produktion.
Das ist das Saatgut, das die Mechanisierung all-
jährlich dem Boden anvertraut, und das auf lange
Zeiten ihr vielfache Ernte tragen wird. Es ist gleich-
zeitig der materielle Lohn der Welt für die unsäg-
59
liehe Anstrengung im Joche der Mechanisierung:
denn diese Schätze aus Erde, Stein und Metall
bedeuten die Zunahme der Nationalvermögen,
deren unvorstellbare Zahlen hier auszusprechen
nicht verlohnt.
Fassen wir die Reihe dieser Vorstellungen zu-
sammen, so muß uns die Erde als eine einzige, un-
trennbare Wirtschaftsgemeinschaft erscheinen. Das
Anwachsen der Bevölkerung hat dies ungeheure
Rad in Schwingungen versetzt; nun kreist es, indem
es selbsttätig und ununterbrochen seine Masse
und Geschwindigkeit vermehrt. Über das Ziel
des Schutzes und der Nahrung hinausstrebend,
schafft die mechanisierte Produktion dauernd neue
Begierden. Schon hat sie die materiellen Lebens-
bedingungen bedeutend gehoben; sie wird und
muß dazu führen, jedes absolute Elend des Besitzes
aus der Welt zu schaffen; gleichzeitig saugt ein
immer wachsender Warenhunger die gewaltiger
sich ergießenden Ströme auf.
Auch in früheren Jahrhunderten war Produktion
eine Hauptaufgabe menschlicher Tätigkeit, doch
ihre Mittel waren beschränkt und gaben keiner
weiteren Hoffnung Raum als der, das Nötigste
zu erschwingen und für himmlische und irdische
Herren etwas zu erübrigen. Die Entfesselung der
Mechanik hat jede Schranke niedergeworfen. Der
Teil der menschlichen Tätigkeit in zivilisierten
Ländern, der weder mittelbar noch unmittelbar
der Produktion und ihrem Schutze dient, ist klein
geworden. Die mechanisierte Produktion hat sich
zum Selbstzweck erhoben.
60
DIE MECHANISIERUNG DER WELT. III
Mechanisierung und Organisation
Wir haben die Mechanisierung der Güterer-
zeugung betrachtet und uns vergegenwärtigt,
wie dieser vielfältige, alles materielle Handeln um-
schließende Aufbau mit Notwendigkeit aus dem
Fundament der Volksverdichtung erwachsen mußte.
Damit nun der zum sichtbaren Gesamtgeschöpf
erhobene wirtschaftliche Bienenstaat Existenz und
Leben gewinnen konnte, mußte ein System unsicht-
barer Verständigungen, Bindungen und Bezie-
hungen gegeben sein, das die menschlichen Ele-
mente des Organismus zusammenhielt, Beruf und
Arbeit verteilte und gleichzeitig die zu bearbei-
tende tote Substanz an diese lebenden Elemente
kettete. Es mußte für das notwendige Drama der
mechanisierten Produktion Textbuch, Szenarium
und Rollenverteilung geschaffen werden.
Den Kern dieser unsichtbaren Ordnung der
wirtschaftlichen Welt bildet die Einrichtung des
Besitzes, und zwar in der auf das strengste an die
Person gebundenen Form des erblichen Besitzes.
Damit nun diese höchst persönliche Einrichtung
den mannigfachen Bildungen und Bewegungen der
mechanisierten Produktionsform sich anschmiegen
konnte, mußte sie in analoger Weise wandelbar
und unpersönlich werden. Der Besitz mußte bis
ins Kleinste teilbar, bis zum Größten anhäufbar,
er mußte beweglich, austauschbar, fungibel, seine
Erträge mußten vom Stamme trennbar und für
sich verwertbar sein. Kurz, der Besitz mußte im
Abbilde den Aufgaben der mechanisierten Wirklich-
6i
keit, der Arbeitsteilung, Arbeitshäufung, Organi-
sation und Massenwirkung entsprechen lernen, er
mußte mechanisiert werden.
Den mechanisierten Besitz nennen wir Kapital.
Der Vorgang, der von außen und physikalisch be-
trachtet als mechanisierte Gütererzeugung er-
scheint, dieser Vorgang stellt sich von innen,
menschlich und organisatorisch betrachtet, als
Kapitalismus dar.
Daher wird der Kapitalismus andauern, solange
das mechanisierte Produktionssystem Bestand hat;
er wird andauern, gleichviel ob alles Kapital der
Welt in den Händen einer Person oder eines Ge-
meinschaftskörpers vereinigt wird, und somit das,
was man heute Transaktion nennt, zur bloßen
Buchung herabsinkt. Man kann daher von dem
Aufhören der privatkapitalistischen Gesellschaft
reden, vorläufig aber nicht von dem Aufhören der
kapitalistischen Produktionsweise.
Schon jetzt ist die Mechanisierung des Besitzes
80 weit vorgeschritten, daß das Kapital in seiner
atomistischen Teilbarkeit, Beweglichkeit und Ko-
häsion auffallende Ähnlichkeiten mit dem Aggregat-
zustand der Flüssigkeiten aufweist und daher inner-
halb gewisser Grenzen den Gesetzen der Hydrostatik
und Hydrodynamik folgt. Diese Verflüssigung ist
geschaffen worden durch eigenartige Zirkulations-
formen, die, von verschiedenster Herkunft und
Geschichte, sich allmählich sozusagen zu Münz-
sorten des Kapitalverkehrs ausgebildet haben. Als
Zirkulationsform des Grundbesitzes kann man die
Hypothek, den Pfandbrief und die Obligation
bezeichnen, als Zirkulationsform der Waren den
Wechsel, als Zirkulationsform des Arbeitswertes die
62
Aktie, als Zirkulationsform der Gesamtwirtschaft
die öffentliche Anleihe, als Zirkulationsform des
unspezialisierten Vermögensanspruchs das Bankgut-
haben und die Banknote. Im Maße wie die Welt-
wirtschaft sich ausdehnt, erhöhen sich die Beträge
dieser fünf Kategorien, im Maße wie die Wirtschaft
dem einen oder andern Schaffensgebiet sich zuwendet,
ändert sich das Verhältnis ihrer Wertbemessungen.
In Gestalt der Zirkulationsformen häufen sich
die Vermögensbestände in zentralen Behältern, aus
denen sie gesammelt oder verteilt den Bestimmungen
zugeführt werden. In Argentinien ist der Bau einer
Hafenanlage erforderlich. Ein Ventil wird geöffnet :
deutsche, französische und englische Bankgut-
haben und Wechsel werden gegen argentinische An-
leihe eingetauscht. Ein zweites Ventil: der argen-
tinische Staat verfügt über sein Guthaben. Und
gleichzeitig wird der lebende Vorgang sichtbar,
dessen finanzielles Abbild soeben gebucht wurde:
aus allen Häfen setzen sich Dampfer nach der Bau-
stelle hin in Bewegung; sie tragen Säcke Zement,
eiserne Schienen, Maschinenteile, Kessel, Kleider;
Lebensmittel und Menschen. Werkstätten werden
errichtet, Erdmengen bewegt, Krane montiert,
Löhne ausbezahlt. Ministerreden gehalten, und die
vereinigte Weltwirtschaft hat sich längst wieder
andern Aufgaben zugewendet.
In gewissem Sinne läßt sich behaupten, die Me-
chanisierung des Besitzes sei der Mechanisierung
der Produktion bereits vorausgeeilt. Denn indem
das Kapital in seinem hydraulischen Zustande
jeden Hohlraum des ökonomischen Bedürfnisses
auszugleichen, von jeder Anhäufung überflüssiger
Produktionseinrichtung abzuströmen strebt, treibt
63
es einerseits zu Neugründungen, andrerseits aber
auch zu Verschmelzungen und Aufsaugungen. So
kann es kommen, daß ein Industrieller in sich selbst
die Doppelnatur der Produktionsseite und der
Kapitalsseite seines Unternehmens erlebt: als selb-
ständiger, auf Tradition und patriarchalische Unab-
hängigkeit gestützter Fabrikant wünscht er die Iso-
lation, als Verwalter eines Kapitals sieht er sich
zur Vereinigung mit andern gedrängt.
Der anonymen, selbsttätig wirkenden und ratio-
nalen Organisation des Besitzes stehtj'Tiicht minder
mächtig, wechselseitig sie stützend und von ihr
gestützt, eine zweite Organisation gegenüber, die
auf Herkommen, Anerkennung, Gewalt und Sank-
tion sich aufbaut, die Organisation des Staates.
In ihr kämpft seit unvordenklichen Zeiten das
mystische mit dem mechanischen Prinzip, das erste
berufen, Herkommen und Ziele zu festigen, das
zweite von den wachsenden Aufgaben und Sorgen
des Augenbhcks emporgetragen. Die mystische
Stärke des Staates lag in seiner uralten Verbindung
mit Religion und Kult. Von dem Zeitpunkt an,
wo eine veränderte Wirtschaft, eine steigende
Bedeutung der Bevölkerungsmenge, ein verstärkter
Reibungskoeffizient in der Außenbewegung den
Staat veranlaßte, Toleranz zu üben, das Verbrechen
der Nebenreligion zu ignorieren, fremdreligiöse
Nachbargebiete anzuerkennen, war der Stützpunkt
vom Unbedingten, Überirdischen ins Bedingte,
Nützliche verlegt; der religiöse Staat war ein Sakra-
ment, der Verwaltungsstaat ist eine Einrichtung.
Das römische Imperium suchte vergeblich nach
einem Ankergrund im Absoluten, Unantastbaren;
es mußte sich schließlich mit orientalischem Leib-
64
gardendespotlsmus abfinden und ging zugrunde.
Der mittelalterliche Staat trug zwar nicht mehr in
sich das Licht der Religion, doch spiegelte er die
Strahlen der Kirche ; und als die Gewalten sich ent-
zweit hatten, erwies sich die germanische Gefolge-
schaftstreue von ausreichender Idealität, um den
Monarchen sakrosankt und den mit ihm verketteten
Staat unberührbar zu machen.
Das erschütterndste Umsturzwort, das je aus
königlichem Munde kam, sprach Friedrich der
Große, indem er den Herrscher als Staatsdiener
bezeichnete. Nicht in der Offenbarung preußischer
Sachlichkeit und Pflichtbewußtheit lag das Ent-
scheidende dieses Wortes, sondern vielmehr darin,
daß das Königtum vom Mysterium, der Staat vom
mystischen Königtum losgebunden wurde, und daß
nunmehr der Staat nach Auffassung des königlichen
Freigeistes zwar als höchste Einrichtung, immerhin
aber nur als Einrichtung der Nützlichkeit und Wohl-
fahrt und als Menschen werk dastand.
Dies hindert nicht, daß gerade unsre Zeit, und
zwar nicht bloß im feierlichen und festlichen Ver-
kehr, die mystische Seite des Staates und der Staats-
autorität zu betrachten liebt. Auch wäre es durch-
aus verkehrt, den Staat als eine Übergangsform an-
zusprechen, die geradeswegs zur Aktiengesellschaft
höherer Ordnung führt. Noch immer schöpft er
seine stärkste Lebenskraft aus absoluten Werten
und Notwendigkeiten. Er bleibt der Garant der
Nationalität, des Rechtes und der Ordnung; das
Jahrhundert der Rationalisierung hat ihm überdies
als Ersatz der schwindenden Mystik den Schutz
der Religionen, der Erziehung, der Wissenschaft und
Kunst übertragen.
I.» 65
Sucht man nun bilanzmäßig zu ermitteln, wie
weit der heutige Staat dem Prinzip der Mechani-
sierung unterliegt und dient, so handelt es sich
darum, festzustellen, welche Funktionen ihm ge-
legentlich, welche Funktionen ihm notwendig zu-
fallen; sodann abzuschätzen, wie weit diese not-
wendigen Funktionen mechanistischer Richtung
folgen. Unberücksichtigt, doch nicht unbeachtet
mag bleiben, daß der Staat in seinem Aufbau das
Vorbild aller mechanistischen Organisationen ge-
worden ist, und daß er an keinem Tage seines auf-
wandreichen Lebens die gemünzten Hilfsmittel
mechanisierter Wirtschaft entbehren kann.
Von der Kirche sind die westlichen Staats-
gebilde in ihrer überwiegenden Mehrzahl losgelöst,
ohne daß man sagen könnte, sie hätten hierdurch
ihren Staatscharakter eingebüßt.
Das eigentliche Regierungswesen, die Aufsicht über
örtliche und regionale Verwaltungen, ist in den
angelsächsischen Ländern bis auf eine leichte finan-
zielle Überwachung unbekannt, und es denkt nie-
mand daran, im Interesse der Staatsvervollständigung
diese Einrichtung einzuführen, ebensowenig wie
man etwa in Frankreich oder in Preußen daran
denkt, sie abzuschaffen. Auch sie darf daher nicht
als ein notwendiges Organ des Staatskörpers gelten.
Die Aufsicht über das Erziehungswesen ist den
Obliegenheiten des Staates erst in jüngster Zeit
hinzugefügt worden. Sie zu beseitigen wäre viel-
leicht kein Fortschritt, doch eine Maßnahme, die
dem Staatsleben nichts von seinem inneren Wesen
rauben könnte; um so weniger als ein anerkanntes
Erziehungsideal in Ländern starker Interessen-
gegensätze nicht besteht.
66
Staatliche Unternehmungen des Verkehrs, der
Industrie und des Handels, mögen sie als notwen-
dige Funktionen angesehen werden oder nicht,
entspringen und dienen der Mechanisierung.
Der Wissenschaftsbetrieb auf Grundlage pri-
vater Universitäten und Forschungsinstitute hat
in den Vereinigten Staaten sich durchaus ebenbürtig
den Staatsbetrieben andrer Länder erwiesen und
somit den Begriff der immanenten Notwendigkeit
dieser Verwaltungsgebiete erschüttert. Auf dem
Gebiet der Kunst ist die Betätigung des lehrenden,
bestellenden und bestimmenden Staates in den
meisten Kulturländern unbedeutend, wo nicht
schädlich.
Die staatliche Finanzwirtschaft beruht, soweit sie
Einnahmen schafft, auf mechanisierter Wirtschaft
und schließt sich ihr aufs engste an. Soweit sie
Ausgaben begleicht, trägt sie die Färbung des
Gesamtkörpers, dem sie dienstbar ist, und ver-
hält sich somit im Sinne der gestellten Frage
neutral.
Es bleiben, wenn man von allgemeiner Reprä-
sentanz absieht, die unumgänglichen Funktionen des
Staates: äußere Politik und Landesverteidigung,
Gesetzgebung und Rechtsschutz.
Entschieden ist die Verteidigung der Nationalität
beim heutigen Stande der Zivilisation eine not-
wendige, ja eine absolute Aufgabe. Indessen wird
erhaltende und werbende Politik, verteidigende
und angreifende Kriegführung weitaus überwiegend,
vielleicht dauernd in den Dienst sogenannter Lebens-
fragen gestellt bleiben, die, solange nicht aben-
teuernde Menschen oder Nationen die Stetigkeit
des Geschichtsganges unterbrechen, sich in Fragen
5* 6j
der wirtschaftlichen Existenz auflösen lassen. Tat-
sächlich und normalerweise gelten neun Zehntel
der politischen Tätigkeit den wirtschaftlichen Auf-
gaben des Augenblicks, der Rest den wirtschaftlichen
Aufgaben der Zukunft.
Mit Ausnahme gewisser seelenpathologisch, reli-
giös, historisch oder philosophisch gestimmter
Gebiete der Kriminalistik, die außerhalb dieser
Betrachtung stehen, dient die Justiz der Sicherheit
und dem Schutz der wirtschaftlichen Person und
Gesellschaft auf der Grundlage der bestehenden
Besitz- und Mechanisierungsordnung.
Die Gesetzgebung wiederum, die alle Gebiete
des öffentlichen und privaten Lebens auf Grund
der herrschenden Zeitanschauung regelt und aus-
gleicht, fügt ebensowenig wie die Säckelmeisterei
dem Gesamtbilde eine neue Farbe zu.
So darf man zusammenfassend sagen, daß der
heutige Staat trotz der Zuflüsse an absoluten Auf-
gaben, die ihm im Laufe der letzten beiden Jahr-
hunderte beschieden waren, in seinem innersten
Wesen den Gesetzen und Evolutionen der Mechani-
sierung gefolgt ist.
Ihn als eine bewaffnete Produktionsvereinigung
auf nationaler Grundlage hinzustellen, wäre viel-
leicht verfrüht; ihn als eine mystische Institution
oberhalb der mechanisierten Wirtschaft und Gesell-
schaft zu betrachten, sicherlich verspätet.
Selbst solche Lebensgebiete, die von materiellen
Zielen und Einwirkungen losgelöst erscheinen wie
Religion und Wissenschaft, haben sich mechani-
stische Umformungen gefallen lassen müssen. Es
ist hier nicht der Ort, zu entwickeln, wie die in
Kirchen verkörperten Religionen mit wachsender
68
Gebietsausdehnung und Bekennerzahl sich zu Be-
trieben ausgestalteten, wie sie lernten, durch still-
schweigende wechselseitige Duldung ihrem inner-
sten Wesen das schwere Opfer der Arbeitsteilung
zuzumuten, wie sie hierarchisch, finanziell, bureau-
kratisch und geschäftlich ihre Verwaltungskörper
auszubauen gezwungen waren, wie sie propagan-
distisch wetteifern, ja selbst mit Gegnern über Tei-
lung der Gebiete, man möchte sagen: des Absatzes
sich verständigen mußten, wie sie unter Ausnutzung
jeder aktuellen Verschiebung der Lage politische,
wirtschaftliche und soziale Mächte in den Dienst
ihrer Interessen zu ziehen hatten.
Der Weltbetrieb der Wissenschaften, neben dem
Kapitalismus die großartigste der anonymen und
internationalen Organisationen, mit seinen peinlich
beobachteten Gebietsabgrenzungen, seinem hoch-
entwickelten Nachrichtenwesen, seinem großin-
dustriell angelegten Laboratoriumsbetrieb, seiner
Wechselbeziehung zur Technik, seinen Verbänden
und Kongressen ist genügend gekannt und gerühmt,
um eine Vertiefung in seine Mechanisierungsform
entbehrlich zu machen.
DIE MECHANISIERUNG DER WELT. IV
Mechanisierung und Gesellschaft
So spannen mechanisierte Organisationen ihre
vielfachen unsichtbaren Netze über jeden Fuß-
breit Erde. Hier und da wird eine Masche sicht-
bar : Absperrungen, Verbote, Aufforderungen, War-
nungen, Drohungen säumen unsre Wege.
69
• Aber diese armseligen Verkehrs maschen bedeuten
wenig, verglichen mit jenen zahllosen Bindungen,
die mit Ausnahme der Gestirne fast jeden sicht-
baren Gegenstand an Personen knüpfen, die jede
Tätigkeit an Rechte und Pflichten ketten, die
alle Einzelmenschen zu den seltsamsten und man-
nigfachsten Gemeinschaften vereinigen. Ein er-
wachsener Deutscher, der vermögenslos aus Amerika
heimkehrt, hat, sofern er sich nicht um Wohltätig-
keit bewirbt, nur das Recht, sich mit normaler
Geschwindigkeit auf öffentlichen Straßen zu be-
wegen und seine Stimme für die Reichstagswahl
abzugeben. Kein verwickelterer und schwierigerer
Beruf läßt sich in zivilisierten Ländern erdenken
als der des Einsiedlers.
Konnte vorzeiten ein Deutscher sich rühmen,
Christ, Untertan, Bürger, Familienvater und Zunft-
genosse zu sein, so ist er heute Subjekt und Objekt
zahlloser Gemeinschaften. Er ist Bürger des Reichs,
des Staates und der Stadt, Eingesessener des Kreises
und der Provinz und Mitglied der Kirchengemeinde ;
er ist Soldat, Wähler, Steuerzahler, Inhaber von
Ehrenämtern; er ist Berufsgenosse, Arbeitgeber oder
-nehmer, Mieter oder Grundbesitzer, Kunde oder
Lieferant; er ist Versicherungsnehmer, Mitglied
gewerblicher, wissenschaftlicher, unterhaltender
Vereinigungen; er ist Kunde einer Bank, Aktionär,
Staatsgläubiger, Sparkontenbesitzer, Hypotheken-
gläubiger oder Schuldner; er ist Mitglied einer
politischen Partei; er ist Abonnent einer Zeitung,
des Telephons, des Postscheckkontos, der Trambahn,
der Auskunftei; er ist Kontrahent von Verträgen,
mündlichen und schriftlichen Verpflichtungen; er
ist Sportsmann, Sammler, Kunstliebhaber, Dilet-
70
tant, Reisender, Bücherleser, Schüler, Akademiker,
Inhaber von Zeugnissen, Legitimationen, Diplomen
und Titeln; er ist Korrespondent, Firma, Referenz,
Adresse, Konkurrent, er ist Sachverständiger^
Vertrauensmann, Schiedsrichter, Zeuge, Schöffe,
Geschworener; er ist Erbe, Erblasser, Gatte, Ver-
wandter, Freund.
Diese Bindungen bedeuten die Verzweigungen
der Nervenfasern im bloßgelegten Inneren der
mechanistischen Wirtschaft. Um aber das Gewebe
der Gesellschaft, der belebten Trägerin der
Mechanisierung, vollkommener zu erblicken, muß
das Auge auch auf den Einschlag dieser lebendigen
Kette gerichtet werden: den Beruf.
Aus diesen beiden Elementen : Bindung und Beruf,
entwickelt sich die entscheidende Eigenschaft der
mechanisierten Gesellschaft, ihre Homogenität.
Schon apriorisch leuchtet es ein, daß eine lebende
Maschinerie, um den Produktionsprozeß der Erde
zu tragen, aus gleichmäßigem, normalem und festem
Material bestehen muß, daß ihre Teile massenhaft
produzierbar und auswechselbar, fest ineinander-
gefügt und reibungslos, geschwindester und gleich-
förmigster Bewegung fähig sein müssen.
Die Bindungen tragen zur Homogenisierung bei,
indem sie bewirken, daß jeder mit jedem sich berührt,
reibt und schleift, daß eine große Zahl gemein-
samer Kenntnisse, Verwaltungs- und Verkehrs-
methoden zum Gemeingut wird, daß der einzelne
lernt, sich zurechtzufinden, anzupassen, umzugehen
und sich von der Abgrenzung der Interessengebiete,
der Beschränkung der Willkür und der Zusammen-
wirkung des Ganzen eine Vorstellung zu bilden.
Jedes der mechanisierten Gesellschaftselemente ist
71
ein wenig alles in allem: Politiker, Geschäftsmann,
Unterhändler, Redner, Disponent und Organisator;
ein jeder ist Träger von Verantwortung, welche füg-
lich als Mechanisierungsform der Pflicht und, bei
ihrem merklich materiell und militärisch gefärbten
Charakter, schlechtweg als die ethische Kategorie
der Mechanisierung angesehen werden kann. Erfreu-
lich tritt der Ausgleich der Eigenschaften zutage in
der schnell erworbenen und bewährten Fähigkeit
unsrer Arbeiter, zu urteilen, zu handeln und zu
verfügen.
Selbst die scheinbar trennende Sonderung des
Berufes muß zur Homogenität führen. Denn eine
reichliche Ansammlung in letzter Linie ähnlicher
Vorkommnisse erzeugt übereinstimmende Geistes-
dispositionen; die Anwendung gleichartiger Denk-
und Arbeitsformen wirkt entscheidender als die
Ungleichartigkeit der Anwendungs- und Arbeits-
gebiete; die Gleichförmigkeit der Arbeitszeit und
Erholungsdauer entscheidender als die Verschieden-
heit der Arbeitsstelle; die Gleichwertigkeit der
Einkommen entscheidender als die Ungleichheit
der Quellen, aus denen sie fließen.
Ein Rechtsanwalt von heute ähnelt seinem medi-
zinischen Stammtischgenossen weit mehr als ein
Leinenweber einem Tuchmacher von ehedem.
Und mehr noch ähneln sich ihre Häuslichkeiten,
ihre Lebensgewohnheiten, ihre Kleidungen, ihre
Denkweisen und ihre Wünsche.
Vor allem aber trägt die zunehmende Intellek-
tualisierung der Berufe dazu bei, gleichartige Men-
schen zu schaffen. Die alte Güterproduktion ver-
langte vom einzelnen einen periodischen Kreislauf
bereitender, schaffender, fertigender und verwerten-
72
der Tätigkeit, denn das Werk eines jeden Menschen
war ein Ganzes. Deshalb mußte viel Handliches und
viel Ungeistiges, viel Abwarten und viel Umstand
in Kauf genommen werden. Heute ist alle Arbeit
unterteilt und daher verdichtet; die Stufenfolgen
sind beseitigt, und der arbeitende Mechanismus
erfordert mehr denkende Überwachung als hand-
festes Zugreifen. Im Gegensatz zu den alten Auf-
gaben, die sich periodisch wiederholten und daher
den Wert der Erfahrung aufs höchste schätzen ließen,
die aber in ihrer Wiederholung der Phantasie und
der Erkenntnis unmerklich wachsenden Spielraum
gestatteten, steht der Schaffende und Überwachende
unsrer Zeit beständig vor scheinbar neuen Pro-
blemen, die sich aber alle mit gleichen Denk-
formen bewältigen lassen und daher die Gleich-
förmigkeit des Handelns vermehren: so etwa, wie
in einem Buch mit Regeldetriaufgaben das hoch-
gemute Auftreten von Wasserstrahlen, Schnell-
läufern und Handelsleuten nur eine wechselnde
Umschreibung der nämlichen einfachen Gleichungs-
formel bedeutet.
Fügt man dem physischen und intellektuellen
Ausgleich der Lebensbedingungen die Wirkungen
eines beständig wachsenden Volkswohlstandes hinzu,
so erhält man die Grundbedingungen der Mittel-
standstendenz, die für die mechanisierte Gesell-
schaft bezeichnend ist.
Die bürgerliche Gesellschaft Deutschlands ist
weit jünger als die englische und französische.
Von ihrer Entstehung an, die in die Mitte des
XVni. Jahrhunderts fällt, war sie hundert Jahre
lang arm, und diese Armut, verbunden mit einer
edlen Stärke der Entsagung, trug reiche geistige
73
Frucht, die zur Ernte der romantischen Periode
und des Verfassungskampfes reifte. Der Mer-
kantilismus der Mechanisierungszeit brachte ihr
unerhörten Zuwachs an Wohlstand und raubte ihr
dafür einen Teil ihrer geistigen Werte. Im letzten
Menschenalter allein hat sich die Zahl der Einkom-
men, die selbständigen kommerziellen Verant-
wortungen entsprechen, zum mindesten verhundert-
facht, und Raum geschaffen für eine Breite des
bürgerlichen Behagens und Luxus, wie sie nur in
England bekannt war. Behausung, Kleidung, Be-
dienung und Unterhaltung zeigen die Merkmale
dieser Steigerung, die vielleicht von allen Entwick-
lungsformen der neuen Zeit die beispielloseste ist.
Denn die Geschichte bietet uns zwar Vorgänge von
maßlosem Reichtum und Prunk einzelner Personen
und Gemeinschaften: die Existenz von Hundert-
tausenden begüterter, ja nach früheren Begriffen
reicher Menschen in einem Lande aber ist gänzlich
ohne Vorgang und führt zu unabsehbaren Folgen,
die man als Grunderscheinung der neuzeitlichen
Umgestaltungen anzusehen sich versucht fühlen
könnte, wenn es nicht klar zutage läge, daß sie als
Folgeerscheinungen von der Verdichtung und Me-
chanisierung abhängen.
Zunächst aber hat dieser Reichtum eine Ver-
armung herbeigeführt; nicht an Vorstellungen
und Kenntnissen, sondern an Wertungen, nicht
an Wünschen und Zwecken, sondern an Idealen.
Dieser homogenisierten Gemeinschaft sind ge-
meinschaftliche Urteile und Ziele noch nicht er-
wachsen, es sei denn solche von handgreiflicher
Utilität; es ist, als sei dem Gesamtkörper ein Innen-
leben noch nicht erwacht oder als seien seine ersten
74
Regungen vom Lärm der Interessen übertäubt.
Noch mehr: eine unbewußte Widerstandsbewegung
der Elemente gegen ihre Homogenisierung zwingt
sie, noch einmal jedes erschwingliche Maß von
Individualität nach außen zu kehren und zur Wah-
rung vermeintlicher Originalität sich jeder offen-
kundigen Gemeinschaftsrichtung zu entziehen. So
wurde in Deutschland nicht einmal für die Freude
am Vaterland ein kulturell gültiger Ausdruck ge-
funden: der unterwürfigen Devotion und dem
aggressiven Gebaren des Vereins- und Geschäfts-
patriotismus wurde eine selbstvertrauende Helden-
verehrung, ein sicheres Nationalbewußtsein nicht
entgegengesetzt.
Von der ideenbildenden Fähigkeit des deutschen
bürgerlichen Intellektualismus aber hängt es ab,
ob und wann er berufen ist, die Verantwortung für
das kulturelle und politische Leben zu übernehmen,
die ihm nach dem Lauf der mechanischen Entwick-
lung beschieden ist. Heute trägt er in Deutsch-
land von dieser Verantwortung nur einen kleinen
Teil, obwohl die bedeutendsten materiellen Auf-
gaben : die Versorgung und Ernährung des Volks-
zuwachses und die Bewältigung der Staatslasten, auf
seinen Schultern ruhen.
Denn nach zwei Seiten hin findet in Deutsch-
land die Homogenisierung wo nicht Grenzen, so
doch Hemmungen, die zwar in manchem Sinne
überschreitbar und überschritten, für die heutige
Kräfteverteilung jedoch von entscheidender Be-
deutung sind. Es wird späteren deutschen Ge-
schichtschreibern schwer verständlich sein, wie in
unsrer Zeit zwei Schichtungssysteme sich wechsel-
seitig durchdringen konnten : das erste ein Überrest
75
der alten Feudalordnung, das zweite, das Kapitali-
stische, eine Nebenerscheinung der Mechanisierung
selbst. Noch seltsamer aber muß es berühren, daß
die neuentstandene kapitalistische Ordnung zu-
nächst dazu beitragen mußte, den Bestand der Feu-
dalordnung zu stützen.
Tatsächlich herrscht heute in den entscheidenden
deutschen Staaten politisch und militärisch der-
jenige Rest der früheren Oberschicht, der sich in
der Form eingesessenen Adels erhalten hat. Aus
zwei Gründen konnte er seine Macht bewahren:
einmal, weil sein gesunder Instinkt ihn an die Land-
wirtschaft fesselte, die unter der Betriebsform des
Großgrundbesitzes im verflossenen Jahrhundert
einen bedeutenden mechanistischen Aufschwung
erlebte und die noch heute eine starke Überwachung
der Landbevölkerung ermöglicht; sodann, weil eine
Anzahl europäischer Dynastien, durch die kapitali-
stische Ordnung bedenklich gemacht, um so enger
mit denjenigen Mächten verbündet zu bleiben
wünschten, die durch Herkom.men ihren Häusern
nahestanden und die bei einem Umsturz am mei-
sten zu verlieren hatten. Freilich wurden diese
Erwägungen zumeist verlassen, sobald die Ver-
hältnisse zu einer gewissen Reife gediehen waren:
wie ein Kapitän beim Sturm sein Schiff lieber auf
hoher See als verankert sieht, so wurde in solchen
Fällen die Monarchie der Tragkraft der gesamten
Nation anvertraut. So bestehen denn feudal ver-
ankerte Dynastien nur noch in Mitteleuropa.
Daß die zweite der bestehenden Schichtungen,
die kapitalistische, und mit ihr die gewaltigste der
einheitlichen Bewegungen unsrer Zeit, die soziali-
stische, nicht in den Mittelpunkt dieser Gesell-
76
Schaftsbetrachtung gerückt ist, mag befremden und
bedarf der Rechtfertigung.
Zweifellos ist es der schwerste Vorwurf, welcher
der Zivilisation unsrer Zeit gemacht werden kann,
daß sie die Beschränkung eines Proletariats zuläßt,
wenn unter einem solchen eine Bevölkerungsklasse
verstanden wird, deren Angehörige unter normalen
Verhältnissen zu selbständiger Verantwortung und
unabhängiger Lebensführung nicht vordringen
können. Die schärfste Zuspitzung dieses Vorwurfs :
daß nämlich innerhalb dieser Klasse zeit- und stellen-
weise Not und Elend haust, wird als berechtigte
Klage durchweg anerkannt und Abstellung der
Übel mit Ernst und nicht ohne Erfolg angestrebt;
so daß die Frage des Notstandes hier ausgeschieden
werden darf.
Erstrebt nun der Sozialismus die Beseitigung
wirtschaftlicher Ungerechtigkeit, die Hebung oder
Umschmelzung des Proletariats, so muß diese Welt-
aufgabe mit hohem Respekt betrachtet und jeder
Schritt zu ihrer Förderung als Zivilisationsfort-
schritt begrüßt werden. Doch darf man vom Stand-
punkt einer über den Augenblick hinausgehenden
Betrachtung nicht übersehen, daß es sich hier um
Abhilfen, und zwar materielle Abhilfen, nicht um
absolute Schöpfung ifnd Ideen handelt. Des-
halb ist es dem Sozialismus nicht gelungen, eine
Weltanschauung zu schaffen; was er über das
materiell praktische Erstreben hinausgreifend zu-
stande gebracht hat, ist stark anfechtbares populär-
philosophisches Erzeugnis. Sozialismus bleibt Zeit-
aufgabe, solange er sich nicht zur Transzendenz
zu erheben und neue Ideale für die gesamte Mensch-
heit und ihren geistigen Besitz aufzustellen vermag.
77
Dann aber würde sein innerstes Wesen sich wan-
deln und ein großer Teil des materiellen Rüstzeugs
abgestreift werden müssen.
Aber auch innerhalb der Grenzen der Zeitauf-
gabe besitzt der Sozialismus nicht die Stärke der
Konsequenz und Unausweichlichkeit, die ihn zum
Pol der gesellschaftlichen Entwicklung machen
könnte, denn er verkennt den Dualismus der Arbeit.
Erfindung und Ausführung, Anordnung und Lei-
itung werden sich niemals dauernd und grundsätzlich
vereinigen lassen, am wenigsten in einer mechani-
stischen und arbeitsteilenden Gemeinschaft. Immer
werden die intuitiv, phantastisch, künstlerisch und
organisatorisch Veranlagten den handgreiflich, prak-
tisch, suggestiv Veranlagten gegenüberstehen. Eine
Arbeitsverschmelzung der beiden Kategorien ist
innerhalb der uns bekannten menschlichen Eigen-
schaftszonen nicht denkbar, vielleicht nicht einmal
wünschbar.
Befreit man somit das Problem von der nüch-
ternen Phantastik mechanisch konstruierter Para-
diese, so bleibt als Kern die große und ernste Auf-
gabe einer Reform des Proletariats. Ihre Lösung
muß einsetzen an dem Punkte der höchsten Unge-
rechtigkeit: bei der lebenslänglichen, ja erblichen
Unentrinnbarkeit des Proletarierschicksals. Die
Lösung ist möglich, wenn sie darauf abzielt, die
Einsperrung der Vermögen, ihre allzu starre Kettung
anPersonen, Familien, Genossenschaften zu sprengen,
eine gerechtere Bindung des Wohlstandes an wirt-
schaftliches und geistiges Verdienst zu sichern und
jedem die geistigen Werkzeuge erschwinglich zu
machen, die zum Wettkampf befähigen. Diese Ge-
samttendenz habe ich vor Jahren mit dem Namen
78
Euplutismus bezeichnet; ihre Mittel bestehen vor-
nehmlich in der Beseitigung aller Rechte, die den
Charakter von Privatmonopolen tragen, in der
Beschränkung des Erbrechts, in einer gegen mühelose
und ungerechte Bereicherung gerichteten Gesetz-
gebung, in der Ausgestaltung der Volkserziehung.
Sicherlich wird die Durchführung dieser Grund-
lätze Menschenalter erfordern, aber ebenso sicher-
lich wird sie erfolgen, und ihre Ergebnisse werden
den Beweis erbringen, daß es zur Abstellung einer
wirtschaftlichen Ungerechtigkeit keines Weltbrande«
bedarf. Noch vor dieser Erfüllung aber wird das
soziale Problem eine Umgestaltung erfahren, und
zwar in dem Sinne, daß die Homogenisierung, weit
über die Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft
hinausgreifend, einen bedeutenden, und zwar den
wertvollsten Teil des Proletariats assimiliert haben
wird.
Denn schon heute erreichen, dem ehernen Lohn-
gesetz zum Trotz, das seinen Trugschluß an die
stillschweigende Voraussetzung unbeschränkten Ar-
beitsangebotes knüpft, die Einkünfte geschulter
Qualitätsarbeiter eine höhere Ebene als die des
bürgerlichen Durchschnitts, und gleichzeitig hier-
mit werden bürgerliche besitzschützende Inter-
essen rege. Die mechanistische Produktion aber
muß die ihr vorgeschriebene Richtung verfolgen
und beständig darnach trachten, mechanische Arbeit
durch Überwachungsarbeit, ungeschulte durch
Qualitätsarbeit zu ersetzen, die sie nicht nur höher
bezahlen kann, sondern vielmehr so reichlich be-
zahlen muß, daß Aufmerksamkeit und Stimmung
des Arbeiters ihren Zwecken erhalten bleiben.
Wollte man dieser Bewegung vorwerfen, daß sie
79
nach Auswahl der Qualifizierten ersten, zweiten und
dritten Grades schließlich ein doppelt verelendetes
Proletariat Unqualifizierter, Arbeitsunwilliger und
Arbeitsunfähiger zurückläßt, so wäre zu erwidern,
daß ein Idealzustand auf Erden freilich die Abschaf-
fung aller wirtschaftlichen Beschränkung erfordern,
daß dieser Idealzustand aber gleichzeitig die aus-
schließliche Existenz brauchbarer Menschen bean-
spruchen würde. Solange dies Ideal nicht erfüllt ist,
wird es des Gegensatzes zwischen beschränkter und
reichlicher Lebensführung bedürfen, um Regungen
der Indolenz zu überwinden, die der Gemeinschaft
schaden. Freilich wird es um so dringender die
Aufgabe der Gesellschaft sein, dafür zu sorgen, daß
jeder Willige durch eigene Kraft dem Zustande der
Beschränkung sich entwinden kann.
DIE MECHANISIERUNG DER WELT. V
Mechanisierung und Leben
Die umgestaltete Produktionsform, die um-
gestaltete Gesellschaft und Welt wirken auf
das Einzelleben zurück; sie schaffen ihm neue Vor-
stellungen, Aufgaben, Sorgen und Freuden und
formen die Persönlichkeit derart, wie die Maschine
beim Einlaufen ihren Teilen die rechte Gefügigkeit
gibt; so daß die Elemente mit geringster Reibung,
mit Ausnutzung aller vorhandenen Kräfte, unter
Ersparnis an Zeit und Material willig, nachhaltig
und rückhaltlos in den Massenprozeß sich ein-
fügen und seinem rastlosen Anwachsen dienstbar
werden.
80
Der Mensch früherer Zeiten kannte den Kreis-
lauf der Natur, die ihn umgab ; er kannte die Wiesen,
Felder, Wälder und Hügel seiner Gegend ; die Stra-
ßen und Gebäude seines Ortes, die nicht zahlreichen
Waren und Gerätschaften, die man feilhielt,
und die Heiligenbilder der Kirchen; er hatte etwas
Lesen, vielleicht auch Schreiben und Rechnen gelernt,
wußte manches aus den Heiligen Schriften und ver-
stand sein Handwerk. Vielleicht war er als Geselle
gewandert, vielleicht hatte er große Herren vorüber-
ziehen, Kirchenfeste sich entfalten sehen ; dann und
wann vernahm er von fernen Erdbeben, Kriegen
und Seuchen, erblickte eine Feuersbrunst, ein Meer-
wunder, ein afrikanisches Tier; im übrigen waren
die Ereignisse seines Lebens die natürlichen, von
Geburt und Tod umschlossenen. Das Alltägliche
war wunderbar, das Wunderbare alltäglich, alles
stimmte zum Betrachten und zum Vertiefen, nichts
zum Urteilen. Die seltenen Ereignisse erschüttern;
sie hinterließen lange Erinnerungen, die sich mit
langen, zuversichtlichen Hoffnungen zu einem
ruhigen Fluß des Erlebens vereinigten.
Vor wenigen Jahrzehnten waren Lebenskreise
ähnlicher Geschlossenheit und Rundung etwa noch
in den Alpentälern von Tirol oder auf friesischen
Inseln zu finden; heute würde es nicht genügen,
bis in die Kieinstädte von Mittelrußland vorzu-
dringen, um ihre Spuren aufzusuchen. Welche
Änderung des Horizontes hat unterdessen etwa der
mittlere Bürger des neuen Deutschen Reiches er-
fahren !
Er verläßt die Schule mit einer Übersicht der
vergangenen und der gegenwärtigen Welt, mit
einer flüchtigen Kenntnis mehrerer Sprachen, ver-
16 8i
schiedener Rechnungsmethoden ; er hat einen Begriff
von der Mannigfaltigkeit der Lebenseinrichtungen,
von der Schematisierung der Naturerscheinungen.
In millionenfachen Reproduktionen sind Kunst-
werke aller Zeiten, Baustile, Landschaften, Völker-
schaften an ihm vorübergezogen. Der Weg durch eine
städtische Straße hat ihm mehr Gattungen von
Waren, Gerätschaften, Apparaten und Mechanis-
men vor Augen geführt, als Babylon, Bagdad, Rom
und Konstantinopel kannten. Das Arbeiten der
Maschinen, der Verkehrsmittel, der Fabrikationen
ist ihm alltäglich, der Anblick von Menschen aller
Berufe und Länder, von Tieren und Pflanzen aller
Zonen nicht überraschend. Er kennt Ausflüge, ja
Reisen über meilenweite Gebiete; Feste, Aufzüge,
Vorführungen, Unglücksfälle, Kriegsübungen sind
ihm geläufig. Er ist gewohnt, Bücher zu lesen.
Hunderte von Gegenständen zu benutzen, ja, zu
besitzen ; er ist gewohnt, Speisen und Vergnügungen
aus aller Herren Länder zu genießen, sich zu unter-
halten und unterhalten zu lassen. Die Erlernung
des Berufes bringt weitere Kenntnis von Methoden
und Hilfsmitteln, seine Ausübungen an wechselnden
Stellen und Orten neue Erfahrung von Lebensver-
hältnissen, Umgang und Organisation.
Aber mit der Lehrzeit und Berufseinrichtung
läßt der Strom der zudringenden Kenntnisse nicht
nach. Täglich mindestens einmal öffnet das Welt-
theater seinen Vorhang und der Leser des Zeitungs-
blatts erblickt Mord und Gewalttat, Krieg und
Diplomatenränke, Fürstenreisen, Pferderennen,Ent-
deckungen und Erfindungen, Expeditionen, Liebes-
verhältnisse, Bauten, Unfälle, Bühnenaufführungen,
Spekulationsgeschäfte und Naturerscheinungen; an
82
einem Morgen während des Frühkaffees mehr Selt-
samkeiten, als seinem Ahnherrn während eines
Menschenlebens beschieden waren. Und zu dieser
freiwilligen Aufnahme an Nachricht gesellt sich die
berufliche: die Korrespondenz des Kaufmanns, das
Kundengeschäft, der Verkehr mit Angestellten und
Vorgesetzten, mit Behörden und Geschäftsleuten
bringt vom Morgen bis zum Abend so viel an Tat-
sachenmaterial, das gemerkt und verarbeitet werden
muß, daß Hunderte von Papierfabriken ganze Wal-
dungen in weiße Bänder verwandeln müssen, um die
Erinnerungszeichen an einen kleinen Teil dieser
Neuigkeiten aufzunehmen.
Das Beängstigende der Bilderflucht ist ihre Ge-
schwindigkeit und Zusammenhanglosigkeit. Berg-
leute sind verschüttet: flüchtige Rührung. Ein
Kind mißhandelt: kurze Entrüstung. Das Luft-
schiff kommt: ein Moment der Aufmerksamkeit.
Am Nachmittag ist alles vergessen, damit Raum im
Gehirn geschaffen werde für Bestellungen, Anfragen,
Übersichten. Für die Erwägung, das Erinnern, das
Nachklingen bleibt keine Zeit.
Wie entledigt sich nun der Geist überflüssiger
Notionen? Durch Urteil. Die Erscheinung wird
besiegelt, etikettiert und eingereiht; so ist sie er-
ledigt, indem sie sich scheinbar in einen Zuwachs
an Erfahrung, vielfach nur in einen Zuwachs an Vor-
urteil verwandelt hat. Aber selbst das Vorurteil
scheint erträglicher als die Urteillosigkeit, eben des-
halb, weil es Vorstellungen verdauen hilft und in
Zweckdienlichkeiten verwandelt. So wird geurteilt
von früh bis spät : dies ist gut, dies ist nützlich, dies
ist ungerecht, dies ist töricht. Selbst die Unterhal-
tung wird zu einem Dialog von Urteilen, die leicht,
6* 83
verantwortungslos, unsachlich und schematisch vor-
gebracht werden. Im Hagel der Tatsachen erstirbt
die Verwunderung, der Respekt vor dem Ereignis,
die Empfänglichkeit, und gleichzeitig erhöht sich
die Begierde nach neuen Tatsachen, nach Steigerun-
gen. Wird die Begierde nicht gesättigt, so tritt eine
verzweifelte Erschöpfung ein, die dem Menschen
seine eigene Lebenszeit hassenswert erscheinen läßt
und daher Langeweile genannt wird.
Mechanistisch betrachtet ist die Langeweile
das Warnungssignal, das dem Menschen in die
Ohren bläst: er sei zeitweilig ausgeschaltet aus
dem allgemeinen Werben und Walten, und das
ihn zum Zwang der Arbeit oder des Genusses
antreibt.
Die Arbeit selbst aber ist nicht mehr eine Ver-
richtung des Lebens, nicht mehr eine Anpassung des
Leibes und der Seele an die Naturkräfte, sondern
weitaus eine fremde Verrichtung zum Zweck des
Lebens, eine Anpassung des Leibes und der Seele
an den Mechanismus. Denn mit Ausnahme der
wenigen freien Berufe, deren Wesen ungeteilt und
Selbstzweck ist, der künstlerischen, wissenschaftlichen
und sonsthin schöpferisch gestaltenden Arbeit, ist
der mechanisierte Beruf Teilwerk. Er sieht keinen
Anfang und kein Ende, er steht keiner vollendeten
Schöpfung gegenüber; denn er schafft Zwischen-
produkte und durchläuft Zwischenstufen. Auch
er kann angepaßten Naturen eine absolut erschei-
nende Befriedigung gewähren, insbesondere da,
wo er mit Vorrechten und Befugnissen winkt; im
allgemeinen aber trägt er seine Belohnung nicht in
sich, sondern hinter sich, er verlangt nicht sowohl
Liebe als Interesse.
84
Mit der Abkehr des Berufes von der Natur zur
Mechanisierung haben sich weitere Änderungen
seines Wesens vollzogen.
Zum ersten; der alte Beruf war gegründet auf
Erfahrung und Erlernung. Der Sohn vollbrachte
im Kreislauf des Jahres, was der Vater im Kreislauf
des Jahres vollbracht hatte. Der Alte hatte die
längere Übung, er hatte mehr Zwischenfälle erlebt :
so war er geschulter und weiser. Zu ihm blickte man
auf, er war Autorität. Was das junge Geschlecht
zum Ererbten hinzufügte, war freiwilliger Tribut
an die langsam sich ändernde Meinung der Zeit, nicht
Not und Zwang.
Wollte heute einer sein Land bestellen, seine
Schuhe fertigen, seine Schnittware verkaufen,
wie es ihn seine Vorfahren gelehrt, er wäre bald
mit seiner Weisheit am Ende; könnte er sie bei
seinen wechselnden Zwischenfällen um Rat fragen,
er erhielte falsche Auskunft. Er muß wie ein Fechter
der launischen Mechanisierung ins Auge schauen,
ihre Finten parieren, ihren Stößen zuvorkommen.
Er muß planen, erfinden, nachahmen, ausprobieren,
um sich zu erhalten. Den Begriff der Autorität
versteht er nicht mehr, und Respekt hat er nur da,
wo er Erfolg sieht.
Zum zweiten. Der Nachbar von ehedem ist der
Konkurrent von heute. Selbst die Landwirtschaft
unterliegt der Konkurrenz, obwohl der Feind jen-
seits der Grenzen, ja des Meeres wohnt. Die Arbeit
ist nicht mehr allein ein Ringen mit der Natur, sie
ist ein Kampf mit Menschen. Der Kampf aber ist
ein Kampf privater Politik; das verfänglichste Ge-
schäft, das vor weniger als zwei Jahrhunderten von
einer Handvoll Staatsmännern geübt und gehütet
8s
wurde, die Kunst, fremde Interessen zu erraten und
den eigenen dienstbar zu machen. Gesamtlagen zu
überschauen, den Willen der Zeit zu deuten, zu
verhandeln, zu verbünden, zu isolieren und zu
schlagen: diese Kunst ist heute nicht dem Finanz-
mann allein, sondern in gewahrtem Verhältnis dem
Krämer unentbehrlich. Der mechanisierte Beruf
erzieht zum Politiker.
Deshalb hält der Berufsmensch sich für befähigt,
nicht nur die eigenen, sondern auch die Angelegen-
heiten der Gemeinschaft zu beurteilen, zu beraten
und notfalls zu verwalten. Er findet sich nicht mehr
in den Gedanken einer über ihm schwebenden, von
der Gottheit inspirierten und ihr allein verantwort-
lichen Erb Weisheit; patriarchalische Fürsorge emp-
findet er nicht wohltuend, sondern kränkend.
Zum dritten. Der Beruf ist ernst und lehrt Sor-
gen. Niemand nimmt sich des Irrenden, des Fallen-
den an; der Mann trägt in seiner Hand sein bürger-
liches Schicksal und das der Seinen. Eine Verken-
nung der Zeit, ein Nachlassen der Kräfte, ein unheil-
barer Mangel der Ausbildung, eine Handlung der
Leidenschaft: und das Gebäude langer Arbeitsjahre
stürzt ins Nichts. Deshalb empfindet der Mensch
seine eigene Verantwortung, aber auch die seines
Nächsten. Er steht der Allgemeinheit mit einem
starken Anspruch an Recht gegenüber und mit einer
entschiedenen Meinung des für ihn Wünschens-
werten. Er ist schwer zu behandeln, schwer zu über-
zeugen, denn er fühlt sich in allen Dingen, die ihn
von fern oder nah angehen, als neue Kategorie : als
Interessent.
So wird in der Schule des Berufes der Mensch
seltsam gemodelt. Mag ihm die Arbeit eine Freude
86
sein, so ist nicht mehr die Freude des Schaffens,
sondern des Erledigens. Eine Aufgabe ist gelöst, eine
Gefahr ist beseitigt, eine Etappe gewonnen: nun
zur nächsten und zur folgenden. Die Zeit eilt, die
Konkurrenz treibt, die Ansprüche wachsen, da bleibt
nicht viel zu sinnen, sich des Erschaffenen zu freuen,
es mit Liebe zu betrachten und zu verschönern;
genug, wenn es strengen, allgemein formulierten
Ansprüchen genügt. Der Erfolg liegt nicht in der
Vollendung, sondern in der Erweiterung; zehnmal,
hundertmal das gleiche Produkt wiederholen, in
kürzester Zeit, mit möglichster Ersparnis, das bringt
Nutzen. Die Arbeit wird extensiv, wie die Produk-
tion es geworden ist; die glückbringende Arbeit ist
die, welche sich vervielfältigt.
Die Arbeit aber wird mehr und mehr vergeistigt.
Kaum daß sich die Hand bewegt, eine Zahlenreihe
zu schreiben, eine Schraube zu verstellen; je teil-
nahmloser die Gliedmaßen ruhen, desto erregter
arbeitet das Gehirn. Und doch ist es mit ruhigem
Nachdenken nicht getan; Angst, Begierde, Leiden-
schaft müssen wirken, damit nichts vergessen, nichts
versäumt, nichts verloren werde.
Diese Spannung erträgt der Mensch, dessen Groß-
vater Hans Sachs oder der Müller von Sanssouci oder
der Pastor Schmidt von Werneuchen gewesen ist.
Von der Flut zusammenhangloser Eindrücke be-
stürmt, zwischen Langeweile und Interesse einge-
spannt, eilig, rastlos, sorgenvoll und überbürdet,
leidenschaftlich aber lieblos wirkend, zehrt er von
Geist und Seele, um einen Tag zu leben; und ist der
Tag verlebt und verbracht, so verfällt er der Er-
schöpfung, die nicht Ruhe, sondern Genüsse ver-
langt.
87
Die Genüsse des Berufsmenschen sind ebenso
extensiv wie seine Arbeit. Der Geist, nachzitternd
von den Erregungen des Tages, verlangt in Bewe-
gung zu verharren und einen neuen Wettlauf der
Eindrücke zu erleben, nur daß diese Eindrücke
brennender und ätzender sein sollen als die über-
standenen. In Worte und Töne sich zu versenken,
ist ihm unmöglich, weil die Gedankenflucht des
Schlaflosen ihn durchfiebert. Gleichzeitig pochen
die gequälten, unterdrückten Sinne an ihre Tore
und verlangen Berauschung. So werden die Freuden
der Natur und Kunst mit Hohn ausgeschlagen,
und es entstehen Vergnügungen sensationeller Art,
hastig, banal, prunkhaft, unwahr und vergiftet.
Diese Freuden grenzen an Verzweiflung, sie erinnern
an die Freier Homers, die beim Herannahen des
Schicksals blutiges Fleisch lachend verzehren,
während die Tränen ihnen über die Wangen laufen.
Ein Sinnbild entarteter Naturbetrachtung ist die
Kilometer]' agd des Automobils, ein Sinnbild der ins
Gegenteil verkehrten Kunstempfindung das Ver-
brecherstück des Kinematographen.
Aber selbst in diesen Tollheiten und Überreizun-
gen liegt etwas Maschinelles. Der Mensch, im Ge-
samtmechanismus Maschinenführer und Maschine
zugleich, hat unter wachsender Spannung und Er-
hitzung sein Energiequantum an das Schwungrad
des Weltbetriebes abgegeben. Ein rauchender
Motor ist kein beschauliches Arbeitstier, das sich
unter freiem Himmel weiden läßt, man schmirgelt
ihn ab, schmiert ihn, feuert den Kessel, und schon
stampft der eiserne Fuß mit neuen Kräften seinen
Zyklopentakt.
88
DER MENSCH IM ZEITALTER DER MECHANI-
SIERUNG UND ENTGERMANISIERUNG
Das Blut ^
Wollen wir uns die Wandlungen vergegenwär-
tigen, die dem Naturell des westlichen Men-
schen in den letzten Jahrhunderten beschieden
waren und die noch erstaunlicher sind als die Ver-
änderungen seiner Umwelt und seines Lebens, so
müssen wir uns daran erinnern, daß ein Rassen Wech-
sel, die Aufzehrung einer Oberschicht mit dem Ver-
dichtungs- und Mechanisierungsprozeß Hand in
Hand ging. Ja, es bestand zwischen diesen Er-
scheinungen eine doppelte, zum Kreislauf geschlos-
sene Kausalverbindung : die Verdichtung brachte den
Rassenwechsel hervor, und der Rassenwechsel allein
konnte die Voraussetzungen der entfesselt fortschrei-
tenden Verdichtung schaffen, die Mechanisierung
der Produktion, der Gesellschaft und des Lebens.
Denn die germanischen Herren des Abendlandes
waren unfähig, diesen Prozeß heraufzuführen, un-
fähig selbst, ihn zu erleiden. Der Strenge und
Schönheit nördlichen Waldlandes wo nicht ent-
stammend, so doch durch Jahrtausende verbunden,
von der Seligkeit des Kampfes mit Natur und Ge-
schöpfen erfüllt, froh in der Kraft und Freiheit des
Leibes, nichts verehrend als das Mutvolle, das Un-
berührte und Überirdische, ein Volk von heiterem
Ernst, von kindlicher Männlichkeit, unschlauer
Klugheit, träumender Wahrheitsliebe, der Tat
geneigt, dem Tun abhold, so traten sie auf die Bühne
der Welt, als Schicksal der Antike und als Herren
einer neuen Zeit.
89
Als Herren und Freie blieben sie Krieger und
Landleute, und wo wir heute noch ihre Überleben-
den erblicken, da sind sie ihrem alten Wesen treu
geblieben, der Mechanisierung nicht oder wider-
strebend gefolgt, nirgends ihre Förderer gewesen.
Selbst da, wo sie unentrinnbar in neuzeitliches
Getriebe verstrickt wurden, haben sie den Mechanis-
mus in eine stillere Sphäre eingeschlossen; ein hol-
steinischer Kramladen wird sachlicher, zweckfreier
und ungeschäftlicher geleitet als eine amerikanische
Kirche.
Denn einer reinen furchtlosen Natur ist das Zweck-
hafte fremd. Die Furcht erspäht hinter den Dingen
Gefahren und Hoffnungen, sie flüchtet in die Zu-
kunft, indem sie die Gegenwart vernichtet. Der
Muthafte läßt sich die sinnliche und übersinnliche
Gegenwart genügen, er respektiert die Dinge, liebt
sie um ihrer selbst willen und benutzt keine Kreatur
als Mittel. Die Mechanisierung aber ist auf Zweck-
haftigkeit aufgebaut. Ihr ist keine Handlung und
kein Gegenstand Selbstzweck; jedes Organ dient
dem Gesamtprozeß, und der Gesamtprozeß dient
dazu, neue Organe zu schaffen. Jeder Moment ist,
für sich genommen, wertlos, aber von der heißen
Arbeit erfüllt, die Reihe der wertlosen Momente zur
Ewigkeit auszudehnen.
Das mechanistische System konnte nicht von
diesen Menschen aufgebracht werden, die in ihrer
Unmittelbarkeit es kaum erfaßten, die es ungern
erlitten und in ihm die höchste Gefährdung ihrer
Herrschaft, ja ihrer Existenz gar bald erblickten.
So haben sie dieses System bis auf den heutigen Tag
bekämpft; gegen Städte, Stände, Konstitutionen,
Demokratien, Verkehr, Handel und Industrie haben
90
sie sich mannhaft gewehrt, und noch jetzt bedeuten
alle konservativen Programme nichts weiter als
Umschreibungsformeln des unbewußten Willens
gegen die Mechanisierung.
Um diese emporzutreiben, bedurfte es Menschen
geringeren Schlages, Unterdrückte und Emanzi-
pierte. Sie mußten aus der Knechtschaft die Ge-
wohnheit der Arbeit mitbringen und das Stigma der
Geduld, das unentbehrlich ist für jeden, der durch
Lernen intellektuelle Schätze sammeln soll. Hand-
fertigkeiten besaßen sie von Ursprung an, denn die
Schwächeren waren von je auf Werkkünste ange-
wiesen ; grüblerisch und erfindungsreich wurden sie,
weil Furcht ihre Stärke aus der Überlegung sammelt.
Auch hatten sie gelernt, seßhaft und in umfriedeten
Räumen ihr Wesen zu treiben, das späterhin zur
Stubenarbeit wurde, Arbeitsteilung kannten sie.
Reden, Verständigen, Überzeugen waren ihre Gegen-
mittel gegen Gewalt gewesen. Neugierde, Wissens-
durst, geistige Beweglichkeit hatte ihnen beständig
genützt, Wahrheitsliebe nicht immer ; die Zähigkeit
des Willens und die Lust am Besitz war gestählt
durch die Unablässigkeit der Gegenkräfte, die harte
Gleichförmigkeit des Druckes. In Lebensansprüchen
gemäßigt, in Genüssen nicht wählerisch, ohne Tran-
szendenz, in Leidenschaften heiß, nicht tief, ohne
Bösartigkeit, aber rachsüchtig und des Hasses kundig :
so trugen sie den Marschallstab des mechanistischen
Menschen im Tornister.
Daß ungermanischer Geist für die Gestaltung
der Moderne verantwortlich ist, hat mancher un-
willige Denker dem Volksgewissen ins Ohr geraunt,
doch stets in der Meinung, zu entarteten Germanen
zu sprechen. So suchte man nach einem Ferment
91
und entdeckte es im Judentum. Der Antisemitis-
mus ist die falsche Schlußfolgerung aus einer höchst
wahrhaften Prämisse : der europäischen Entger mani-
sierung; und somit kann derjenige Teil der Bewe-
gung, der Rückkehr zum Germanentum wünscht,
sehr wohl geachtet und verstanden werden, wenn
er auch die praktische Unmöglichkeit einer Volks-
entmischung verlangt.
Die Lehre von der semitischen Gärung hat jüngst
ein geistvoller Nationalökonom in anziehender
Weise mit einer Art verdrießlicher Bewunderung
des schuldigen Teils entwickelt, indem er das Neu-
zeitwesen auf den Kapitalismus, den Kapitalismus
auf das Judentum zurückführt. Er denkt also im
Ernst daran, dem kleinen Volksstamm, dem die
Welt die Hälfte ihres Gesamtbesitzes an religiöser
Transzendenz schuldet, nun auch die Summe der
materiellen Lebensordnung gutzuschreiben. Der
Irrtum liegt in der Verkennung der Tatsache,
daß Kapitalismus, so gut wie Technik, Wissen-
schaft, Verkehr, Kolonisation, Städteentwicklung
oder Weltpolitik, nur Einzelerscheinungen der
Grundfunktion bedeuten, die in der Verdichtung
und ihrer Selbstbehauptung, der Mechanisierung,
liegt. Die Betrachtung der Einzelfunktionen mag
entwicklungsgeschichtlich Bedeutendes zutage för-
dern ; den inneren Zusammenhang enthüllt sie nicht.
Wählt man einseitig eine der Einzelerscheinungen
als Grundvariable, so laufen die übrigen als glückliche
Zufallsergänzungen nebenher, und man muß es als
eine Art prästabilierter Harmonie betrachten, daß
die Geschichte der Erkenntnis, der Wissenschaft,
der Entdeckungen jedesmal rechtzeitig die Er-
rungenschaften lieferte, deren der Kapitalismus
92
bedurfte. Am schwersten aber wird der Gärungs-
theorie der Nachweis fallen, daß durch bloße Ein-
wirkung eines Fermentes aus taciteischen und karo-
lingischen Germanen preußische Kaufleute, Fabrik-
arbeiter, Gelehrte und Beamte werden konnten.
Die Gesamtheit der neuzeitlichen Umwälzung
fordert zu ihrer Erklärung neben der Verdichtungs-
wirkung den Rassenwechsel.
Wäre der Wechsel jedoch unvermittelt und von
Grund auf erfolgt, so hätte er die mechanistische
ZiviHsation nicht gezeitigt. Das Volk bedurfte
noch lange germanischer Geistesleitung und bedarf
noch heute germanischen Einschlages. Dieser Be-
schränkung verdankt das geistige Leben Westeuropas,
insbesondere Deutschlands, die Erhaltung seines
transzendenten Inhalts, verdankt Kunst und Geistes-
wissenschaft ihre Freiheit und ihre Innerlichkeit,
verdankt die Forschung ihre Aufopferung und Wahr-
heitsliebe, verdankt das Erwerbsleben seine Weit-
herzigkeit, das öffentliche Leben Unbescholtenheit,
Hingebung, Mut und Treue. Genau in der Abstu-
fung, in der vom Norden nach dem Süden, Süd-
westen und Südosten hin der germanische Einschlag
sich abschwächt, verdunkeln sich die Eigenschaften,
die er den Völkern einprägte. Skandinavien, Eng-
land, Deutschland, Holland, das zisleithanische
Österreich und die Schweiz bilden noch heute das
Weltzentrum und die Schule der Kulturqualitäten,
welche die gräkoromanischen Länder großenteils
verloren, die übrigen niemals besessen haben. Den
Vereinigten Staaten, die hinsichtlich ihrer Ein-
schlagsverhältnisse dem europäischen Durchschnitt
entsprechen, fehlt die Vorschule germanischer Ober-
herrschaft und Leitung, sie konnten daher zwar die
93
mechanistische Zivilisation auf den höchsten Gipfel
treiben; kulturbildende Kräfte sind ihnen nicht
entstanden, wenn man auch in einer Nation von
achtzig Millionen eine leidliche Anzahl kultivierter
Menschen auftreiben mag. Die übrigen europäischen
und europäisierten Länder haben sich den Mechani-
sierungsformen passiv, zum Teil verständnislos an-
gepaßt, ohne Neues hinzuzufügen. Die Kultur
Japans ist eine orientalische; v^^as an ihr europäisch
erscheint, ihr Idealismus des Dienstes, ihre Natur-
liebe und Muthaftigkeit, entstammt der Herrschaft
einer kriegerischen Oberschicht unbekannter Her-
kunft.
Die treibenden Kräfte
Unter dem Bilde des Interesses haben wir die
Willensform erblickt, die den mechanisti-
schen Menschen durch das Gewirr der Bindungen
hindurch von Mittel zu Mittel zu den Zielen leitet,
die zu erstreben er sich berechtigt und befähigt
glaubt. Freilich weicht die Fata Morgana vor
seinem Nahen unablässig zurück, denn sein inneres
Leben ist von Strebungen so durchsetzt, daß der
Wille unbewußt zum Selbstzweck geworden ist.
Dies drückt sich von innen, aus der Seele des Men-
schen betrachtet, so aus, daß das jeweils Erreichte
nach dem Bismarckschen Worte „auch nichts ist".
Denn in der mechanistischen Welt darf kein Ziel
erreichbar sein; sie bedarf aller Kräfte bis zum
letzten Atemzuge, um ihren Wirbel zu beschleu-
nigen, und straft den entsprungenen Sklaven mit
Not, Vergessenheit, Langeweile oder vorschnellem
Altern.
94
Damit nun die Besessenheit des Strebens im Men-
schen nicht erlahme, bedarf es unerschöpflicher Trieb-
kräfte. Die materiellen Appetite, Hunger und Liebe,
reichen nicht aus, denn auch die weitesten Ansprüche
ihrer Üppigkeiten sind zu sättigen. Die ideellen
Motoren, Pflicht, Schaffensfreude, Wissensdrang,
Vervollkommnung, Ausflüsse der transzendenten
Liebe, lassen sich nicht wissentlich in den Dienst
einer materiellen Weltordnung stellen. So mußte die
banalste und rätselhafteste aller Leidenschaften, der
Ehrgeiz, zur Verstärkung der bewegenden Mechani-
sierungskräfte ins Ungemessene gesteigert werden.
Banal ist diese Leidenschaft, wenn man in ihr
nur den Inbegriff der am Durchschnitt sich messen-
den und darüber hinausstrebenden Appetite erblickt ;
rätselhaft wird sie, wenn man alle materiellen Be-
gierden abspaltet und erkennt, daß dennoch etwas
übrigbleibt, das sie alle an Heißhunger und Nach-
haltigkeit übertrifft. Dies Etwas ist das Strebennach
Geltung, und zwar ohne Hinblick auf die mittel-
baren Vorteile, die aus ihr erwachsen können, viel-
mehr lediglich nach Geltung selbst, nach Aner-
kennung, Bewunderung, Beneidung. Dies Streben
darf nicht verwechselt werden mit dem wesentlich
seltneren, dem Schaffensdrang verwandten Willen
zur Verantwortung und somit zur Herrschaft. So
war Napoleon in diesem eitlen Sinne nicht ehr-
geizig, wenn auch höchst herrschsüchtig; am Urteil
der Menschen lag ihm nur da, wo er ihrer bedurfte;
Gesetze und Organisationen ihnen vorzuschreiben,
war ihm wichtig. Die Krönung in Notre Dame,
der erhabenste Traum des Histrionen, war ihm ein
lästiges Theaterspiel, die Ausarbeitung des Code
civil ein hohes Glück.
95
,Rätselhaft ist der abstrakte Ehrgeiz deshalb, weil
alle Bewunderung der Maske gilt und von der Maske
zum Träger kein inneres Band der Identität führt.
Die Huldigung bleibt die gleiche, auch wenn sie den
Wagenlenker für den Triumphator hält, denn sie
gilt einem beliebigen Leichnam. Rätselhaft ist
ferner der wahnsinnige Wille zur Abhängigkeit,
der Sturz in die Knechtschaft der fremden Meinung.
Diese Leidenschaft läßt sich nur erklären aus atavi-
stischen Gefühlsreihen von Zurücksetzung, die ihre
Umkehrung auszulösen streben, und aus der ererb-
ten Furcht vor Menschen, die sich ihres Gegen-
standes zu entledigen, womöglich zu bemächtigen
sucht, nun aber, da sie sich ihrer selbst nicht ent-
ledigen kann, als Furcht vor Meinungen endet, da
sie zuvor Furcht vor Handlungen gewesen war.
Diese krankhafte Psychologie unterdrückter Ge-
schlechter, die den Schwerpunkt außerhalb der
Persönlichkeit legt und das innere Gleichgewicht
des Menschen aufhebt, war dem germanisch freien
Stammeswesen unbekannt. Germanisches Selbstbe-
wußtsein, Unabhängigkeitsgefühl und Herrentum ist
uns überliefert, germanischer Ehrgeiz und Eitelkeits-
hang ist undenkbar ; wie denn eine Reihe von Merk-
malen schlechthin als Indikatoreigenschaften der Ur-
rassen angesehen werden können : vor allem Unwahr-
haftigkeit, Eitelkeit, Neugier und Verkleinerungslust.
Im absoluten Ehrgeiz hat die auftauchende Unter-
schicht sich ihre leitende Begierde geschaffen. Da-
neben aber hat sie einem der ursprünglichen Appe-
tite eine veränderte, die mechanistische Bewegung
gewaltsam fördernde Form gegeben.
Die Freude am überflüssigen Besitz ist alt und
allgemein menschlich, wenn sie gleich bei edleren
96
Rassen gemindert, bei edleren Individuen fast ver-
flüchtigt erscheint. In ihrer primitiven Form
verlangt sie nach Handgreiflichem, Glänzendem;
Dingen, die zieren, schmücken, die anziehen oder
Neid erregen. In entwickelter Form nähert sie
sich der fanatischen Freude am Ordnen, Verwalten
und Schaffen.
Die Mechanisierung mußte von der niederen
Form der Besitzesfreude ausgehen, die zum gei-
stigen Inventar der Unterschicht gehörte; sie trieb
diese Leidenschaft empor, indem sie eine nie ge-
ahnte Fülle von Produkten ihrer Begierde entgegen-
hielt, und erzeugte so den beispiellosen Warenhunger,
der mittelbar und unmittelbar mehr als die Hälfte
der Weltarbeit verbraucht. Das Kaufen und Kaufen-
können ist zumal das Glück der Frauen. Und da
Maschine und Manufaktur unabsehbare Mengen
von Surrogaten des Naturgenusses und von Sur-
rogaten dieser Surrogate liefern, nach Herzens-
lust geschmückt und staffiert — denn den Me-
chanismus kostet es nichts, mit einem Handgriff
alle Formen der belebten Welt auf das nüchterne
Material zu prägen — , so ergänzt und erneuert sich
alljährlich das ungeheure Warenlager des mensch-
lichen Besitzes. Wie die Eroberer des Pekinger
Kaiserpalastes bis an die Knie in seidenen Stoffen
wateten, so stampft der erwerbende Mensch durch
Ströme von Waren, mit denen ihn keine eingewohnte
Liebe zum Gerät verbindet, und er läßt Ströme
von Abfällen hinter sich zurück. Wir lesen vom
Reichtum einer griechischen Stadt und bedenken
nicht, daß im Hause des Bürgers nichts anderes zu
finden war als ein paar Tische und Betten, ein
Dutzend Tongefäße, Decken und vielleicht ein
''' « 97
kupferner Kessel. Die jährliclien Abgänge einer
unsrer bürgerlichen Wohnungen sind umfangreicher
als dieser ganze klassische Besitz.
Ehrgeiz und Warenhunger arbeiten sich in die
Hände. Der eine zwingt den Menschen, sich immer
fester in das Joch der Mechanisierung einzupressen;
er steigert seine Erfindungskraft, seinen produk-
tiven Willen. Der andre erhöht sein Verbrauchs-
bedürfnis und läßt ihn doch gleichzeitig empfinden,
daß nur ein emsig schaffendes Organ die Lust des
Kaufens dauernd genießen darf.
Die Summe der beiden Haupttriebkräfte aber
steigert sich zu einem Gesamtwillen, der ent-
schiedener als irgendeine andre Erscheinung die
Seele unsrer Epoche kennzeichnet, indem er ihr
den Stempel des nach außen gerichteten Strebens
aufprägt. Diese Übermacht des substantiellen
Willens über die Seelenkräfte, dieses Zweckmen-
schentum, das dem Wesen furchthafter Stämme
entspringt, setzt die okzidentale Rassenverschiebung
in das hellste Licht psychologischer Betrachtung.
Die Ideale
Einem Menschen kann man nicht tiefer ins
Herz blicken, als wenn man seine Träume
und Wünsche erforscht und deutet. Wollen wir
unser Bild vom Wesen dieser Epoche vertiefen,
so können wir nichts Besseres tun, als den Spuren
ihrer Ideale nachzugehen; denn sie sind nicht nur
die bewußten und unbewußten Träume, Ahnungen
und Sehnsuchten einer Gemeinschaft, sondern zu-
gleich verklärte Spiegelungen ihres eigenen Wesens.
Ein Mensch kann vom andern träumen, sich mit
98
ihm vergleichen, ihn bewundern, sich nach ihm
formen: die Geineinschaft träumt nur sich selbst;
denn fremdes Wesen ist Kenntnis des einzelnen,
der Gesamtheit ist es unwichtig und unbekannt
Nun folgt sofort ein Widerspruch: Damit das
Spiegelbild klar und rein erscheine, muß die pro-
jizierende Flamme gleichmäßig leuchten: nur ho-
mogene Gemeinschaften haben Ideale. Ein Eng-
länder, ein Franzose, ein Neger und ein Mongole,
die sich im Eisenbahnwagen unterhalten, können
sich vielleicht über letzte nebelhafte Ziele der
Menschlichkeit verständigen; ihre Begriffe von
dem, was schön, gut und wahr ist, werden weit aus-
einandergehen. Nun ist aber die europäische Ge-
meinschaft ein Verschmelzungsprodukt zweier
Schichten, die nicht durchweg und gleichmäßig
sich durchdrungen haben: von der Legierung bis
zur Mengung findet von Süd nach Nord ein mäh-
licher Übergang statt, überdies mit wechselnden
Massenverhältnissen der Komponenten. Ist dieses
Gemenge genügend gleichförmig, um Ideale zu
erzeugen ?
Sodann: die mechanistische Lebensform ist ein
Kreislauf ohne Ziel, eine sich selbst verstärkende
Maschinerie ohne Tendenz nach außen, in sich
geschlossen und ausschließlich: kann sie absolute
Ziele und Werte schaffen oder auch nur aner-
kennen oder selbst erhalten? Wird sie nicht am
Ende dahin neigen müssen, alles im Menschen zu
beschwichtigen, was an Fragen, Hoffnungen und
Träumen in ihm auftaucht, weil diese immateriellen
Regungen ihn dem Arbeitsprozeß entziehen ? Wird
sie nicht immer wieder ihre handgreiflichen Werte,
ihre rechnerischen Denkformen, ihre tatsächlichen
'* m . 99
Forschungen emporheben, um ihre Gefolgschaft
zu blenden oder zum mindesten durch Zwiespalt
zu beherrschen ?
Ein annähernd lückenloses Bild der zeitgenössi-
schen Ideale wird sich uns nicht entrollen. Wir
werden uns begnügen müssen, aus Bruchstücken
halbzerstörter Untermalung und aus neu hervor-
tretenden Umrißlinien den Sinn der Zeichnung
zu erraten: Hier und da werden alte und neue
Formen sich durchkreuzen, hier und da werden wir
Gebilde unter dem Hauch der Mechanisierung
erloschen finden; doch wird der Eindruck des Er-
kennbaren die Vermutung rechtfertigen, daß über-
all da, wo die fortschreitende Homogenisierung
bereits Grundzüge neuer Ideale festgelegt hat, die
alten merklich dem Verlöschen sich nähern. Wie
bisher wird die Darstellung die den westeuropäischen
Ländern gemeinsamen Züge hervorzuheben suchen,
und dort, wo Sonderung erforderlich scheint, den
deutschen Verhältnissen sich zuwenden.
Das leibliche Ideal. Trotz der unendlichen
Mannigfaltigkeit des Gegenstandes können ihm
einige kennzeichnende Züge abgewonnen werden.
Es ist dem griechischen ähnlich, aber schlanker,
weniger gerundet, straffer gemuskelt. Der Kopf
größer, aber immer noch klein im Verhältnis zum
Körper, der Hals dünner und länger. Die Nase
stärker gebogen als die griechische und bedeutend
schmaler, aber gleichfalls lang. Die Lippen weniger
voll, die Wangen weniger tief, die Stirn flacher.
Vor allem das Weib weniger breitbrüstig und
heroinenhaft, zarter und jungfräulicher. Alles in
allem der Leib feiner und rassiger, mehr den eque-
strischen als den gymnastischen Übungen angepaßt.
ICO
Zweifellos ist dieser blonde und blauäugige Ideal-
typus den überlebenden germanischen Naturen ent-
lehnt : er tritt überall da hervor, wo die Aufzehrung
noch nicht vollendet ist, selbst in Frankreich.
Spanien, das Land der frühesten Vermischung, kennt
ihn in seiner neuzeitlichen Kunst nicht mehr; in
Italien herrschte er bis zum Ende der Frührenais-
sance; mit dem beginnenden Barock war er, wie zu
erwarten, verschwunden. Heute steht der spanische
Idealtypus dem arabischen, der italienische dem
gräkoromanischen näher, und südfranzösische Künst-
ler beginnen, die volleren Formen der Frauen ihres
Landesstriches zur Norm zu erheben.
Die Beibehaltung des germanischen Körperideals
zeigt, was auch ein Blick in neupreußische Verwal-
tungs- und Militärverhältnisse bestätigt, daß das
Volk unbewußt das reinere Germanentum, soweit
es ihm noch sichtbar vor Augen steht, als das edlere
Blut, sich selbst als Abkömmling unterdrückter und
unedler Geschlechter betrachtet. Zu dieser Selbst-
losigkeit stimmt die humorvolle Bescheidenheit, in
der ein Teil des deutschen Bürgertums sich mit
Familiennamen abfindet, die bloße Gattungs- und
Berufsbezeichnungen bedeuten, und die zuweilen
verderbt slawisch, unverständlich, absurd oder vul-
gär klingen, während der weniger entgermanisierte
Nordseestrich, vor allem aber Skandinavien, die Be-
nennung nach dem Vorfahren sich erhalten hat.
Das menschliche und das ethische Ideal
sind vereint zu betrachten, denn sie hängten durch
die Grundanschauungen des Zielbewußtseins zu-
sammen.
Im Menschlichen herrschen die alten germani-
schen Idealbegriffe des Mutes und der Großmut.
lOI
Der mutig Kraftvolle wird bewundert und geliebt;
ihm ist alles erlaubt, was er durch souveräne Ge-
walt durchsetzt, sofern er sich als ein großmütiger,
gerechter und milder Herr erweist, jedoch mit der
neuzeitlichen Einschränkung, daß nicht etwa ge-
schädigte oder erschreckte Individuen und Gesell-
schaften sich entrüsten dürfen. Der Aufrührer, der
Revolutionär, der kirchliche Empörer, der Konqui-
stador werden gepriesen, verehrt und, wenn sie Er-
folg haben, staatlich anerkannt. Verachtung trifft,
abgesehen vom vertierten Menschen, eigentlich nur
den Feigling und seine heimlichen Taten. Hinter-
list, Betrug, Diebstahl, ja selbst Lüge, die im außer-
germanischen Kreise als zulässige Diplomatie gilt,
werden verabscheut und in neuzeitlicher Abstufung
nach Maßgabe der Vermögensgefährlichkeit be-
straft. Den Taten der Leidenschaft und des Über-
muts steht das Volksbewußtsein indifferent, ja mit
einer Art von Wohlwollen gegenüber, sie sind Ge-
genstand der Dichtung, und der Kontrast zwischen
menschlichem Verstehen und sozialer Sühneforde-
rung bildet tragische Konflikte. Handlungen der
Großmut und mutiger Aufopferung begeistern,
Ausflüsse der Güte, der Friedfertigkeit, des Er-
barmens lassen kalt. Ein feiger Mensch könnte, ab-
gesehen von slawischer Literatur, heute noch nicht
Held europäischer Gedichte sein, auch wenn er mit
allen Tugenden der Evangelien ausgestattet wäre.
Dagegen läßt sich eine gewisse Verschiebung des
Idealtypus in der Richtung der Energie und des
Intellekts feststellen. Amerikanische Menschen des
Erfolges beginnen den Massen zu imponieren; mu-
tige Erfinder und Entdecker werden höher gefeiert
als vordem Kriegshelden; zum Lesebuch des Volkes
102
ist nach Ritter- und Indianergescliicliten der De-
tektivroman geworden. Ja es beginnt hier bereits
eine große Verwirrung des bürgerlichen Empfin-
dens : in einer Zeit, die den Erfolg an die Stelle des
Sieges gesetzt hat, kann man nicht umhin, sich ein-
zugestehen, daß den Helden von ehedem die Eigen-
schaften fehlen, welche die Mechanisierung ver-
langt. Man strebt, den Erfolgreichen nachzuahmen,
und kann somit nicht unterlassen, sie zu bewundern,
wo nicht gar zu lieben. Das germanische Ideal, das
dem Ansturm des Christentums durch ein Jahr-
tausend standhielt, ist durch die Mechanisierung
erschüttert.
Sichtbarer noch sind die Einwirkungen der neu-
gestalteten Zivilisation auf die Ethik der Gemein-
schaft, zumal auf die Schärfung des öffentlichen
Gewissens. Die christliche Kirche durfte alles
menschliche Elend als Prüfung bezeichnen und auf
das Jenseits verweisen; die Reformation konnte in
großartiger Verneinung auf jegliches fromme Ver-
dienst verzichten. So begnügte sich die älteste Zeit
hinsichtlich aller Wohlfahrtsbestrebungen damit,
Siechenhäuser, Irrenkerker und Klostersuppen zu
stiften, und alles übrige der bürgerlichen Barm-
herzigkeit anheimzustellen. Die mechanistische
Epoche dagegen übernahm von ihren Schöpfern,
unterdrückten und furchthaften Stämmen das Mit-
leid, das nichts anderes als eine altruistische Furcht-
empfindung ist. In der Verherrlichung dieses Lei-
dens zum ethischen Ideal lag zweifellos eine gewisse
Diesseitigkeit der Anschauung, ja ein ethischer Ma-
terialismus; doch ist durch die gesetzgeberische
und organisatorische Ausgestaltung des Wohlfahrts-
wesens, vor allem aber durch die Überzeugung des
103
öffentlichen Gewissens, daß alles menschliche Elend
als Blutschuld der Gesellschaft zu erachten sei, ein
Wert von so gewaltiger Wirklichkeit entstanden,
daß jede künftige Einschätzung der Mechanisierung
ihn in Rechnung zu stellen haben wird.
Das religiöse Ideal. So mächtig die Kirche
das Leben der früheren Jahrhunderte durchdrang,
so gering war die Wirkung der in ihr verkörperten
reinen christlichen Ideen auf das Germanentum.
Widerwillig aufgenommen, durch Höllenzwang ge-
festigt, konnte die Kirche den Abgrund, der zwi-
schen dem Worte Christi und ihren hierarchisch-
politischen Aufgaben lag, nicht überbrücken. Mit
dem Mutideal des Germanen, das ihren Lehren der
Demut widersprach, mußte sie sich abfinden; die
wenig evangelischen Sitten abendländischer Lebens-
weise, Politik, Kriegführung mußte sie dulden, ja
ihren irdischen Zielen dienstbar machen. Den letz-
ten transzendenten Inhalt ihrer Verkündigung
durfte sie den Massen nicht übermitteln, um nicht
die weltliche Ordnung zu stören oder aufzuheben.
Die Lehre von der Liebe, der Weltflucht, der De-
mut, der Kindlichkeit, der Zweckfreiheit, dem
Gottesreich blieb esoterisch, ein Besitz der Heiligen.
Ins Volk drang der Mariendienst, die Geschichte
der Geburt und der Leiden Jesu, der Olymp der
Heiligen, der Begriff der Sünde und der Gnade,
Himmel und Hölle. Diese Inhalte haben die Kunst
aufs glücklichste befruchtet, sie haben manches
fromme Gemüt mit göttlicher Ahnung erfüllt und
starke Gewissenszwänge auf die jungen Völker aus-
geübt; die Ideen Christi haben sie dem Abend-
lande nicht mitgeteilt. Man kann deshalb fast
durchweg in der vorreformatorischen Geschieht-
104
Schreibung Europas den Begriff des Christentums
durch den der Kirche ersetzen. Die Reformation
hat neben ihren großen dogmatischen und rituellen
Umgestaltungen die Evangelien literarisch erweckt
und aus ihrem Inhalt so viel überströmen lassen,
daß den Schwachen Tröstung, den Mächtigen Er-
bauung gespendet wurde. Ein evangelisches Leben
in Wahrheit zu verwirklichen, hat auch sie nicht
versucht und ist somit Kirche geblieben. Ja mehr
noch : sie war Macht und diente der Macht, so daß
gelegentlich der naiv-verruchte Gedanke aufkom-
men konnte: da nun einmal Christus die Not-
leidenden tröstet, so möge ihnen damit genug sein;
man gebe ihnen statt Brot steinerne Kirchen, um
sie desto besser in göttlicher Furcht und mensch-
licher Abhängigkeit zu erhalten.
Die beginnende Mechanisierung fand sich somit
der Macht zweier Kirchen gegenüber und wandte
gegen sie das ganze Arsenal ihrer Forschungsergeb-
nisse und Verstandesmethoden; zum Christentum
selbst drang sie nicht vor. Selbst der späte und
reiche Geist Nietzsches wütete gegen die Kirche,
indem er glaubte, mit Christus zu kämpfen.
Noch heute ist die mechanistische Epoche in
christlichem Sinne nicht weitergekommen. Sie hat
den kirchlichen Liberalismus emporgebracht und
ringt in materieller Auffassung um dogmatische
Zugeständnisse. Populär-historische Fragen werden
mit Leidenschaft erörtert, und das Ziel erscheint
eine dritte Kirche mit unpersönlichem Dogma.
Auch da, wo die Zeitanschauung sich vom Chri-
stentum löste, konnte sie ihr religiöses Empfinden
vom terrestrischen Bande der Vernunft nicht be-
freien, gleich als ob eine vielbeschäftigte Zeit es für
JOS
angemessen hielt, die göttlichen Dinge mit der
Geistesmechanik des Alltages zu erledigen, um nicht
allzuweit von ihren vermeintlich produktiveren Auf-
gaben hinweggerissen zu werden. So griff sie denn
immer wieder zu den plumpen Hebeln des Ma-
terialismus, ließ sie unüberzeugt fahren, wenn an-
gesehene Leute ihr ins Gesicht lachten, und spähte
beständig nach heimlicher Gelegenheit, um zu
ihrem Lieblingsspielzeug zurückzukehren.
Denn bei den edleren ungermanischen Rassen
mischt sich — wie bei den Juden ersichtlich — in
seltsamer Weise Aberglauben mit hoher Trans-
zendenz. Der abergläubische Teil sieht in der Re-
ligion die Mirakelseite des Naturgeschehens. Glaubt
er sich von Mirakeln und Gebetwundern unter-
stützt, so behält er eine gewisse dumpfe Dämono-
logie bei, nicht ohne sich seiner Unaufgeklärtheit
ein wenig zu schämen. Hat er enttäuscht oder
kämpfend dem Wunderwesen ein Ende gemacht,
so läßt er sich im Gefühl erledigten Vorurteils mit
einer entgötterten Welt oder einem deistisch-
pantheistisch verwalteten Naturtheater genügen.
Der Anspannung der Seelenkräfte, des religiösen
Erlebens, der transzendenten Intuition ist ein an-
derer Teil dieser Menschen von jeher in hohem
Maße fähig gewesen; doch haben ihre Stimmen in
der mechanistischen Welt bisher wenig Nachhall
gefunden. Die Anschauung dieser Welt geht eben
dahin, alles Geschehene sei unerstaunlich, von aus-
schließlicher Realität, nicht ethischen, sondern
mechanischen Gesetzen unterworfen, ohne absolute
Werte, durch Vernunft erschöpfbar. Diese An-
schauung ist aber nichts anderes als die Gefühls-
lokalisierung der Tatsache, daß der noch junge
io6
mechanistische Prozeß die Seelenkräfte zugunsten
der Geisteskräfte unterdrückt. Sollte dieser Zwangs-
zustand nachlassen, so würde die entgermanisierte
Bevölkerung an transzendenten Kräften sich reich
genug erweisen, um ein von Erdenfesseln fieies re-
ligiöses Ideal emporzutragen: Beweis ist die echte
und große Sehnsucht edlerer Naturen, die mit nicht
geringerer Inbrunst als vor zweitausend Jahren auf
Erlösung wartet.
Das Ideal der Kunst. Die Kunst entstand
aus Schmuck und Spiel primitiver Völker. Die
erste Segnung wurde ihr zuteil, als sie im Stande
beginnender Zivilisation als Handwerk gebunden
vnirde. Hieraus erwuchsen ihr die Vorteile der
technischen Bindungen an Materialien und Kräfte,-
der traditionellen Summierung der Erfahrungen
durch Generationsreihen, der Kurzschrift und
Symbolik des Ornaments, der Vorräte an land-
läufigen Inhalten und Gegenständen, der Gefolg-
schaft einer im Mitempfinden und Verstehen fort-
schreitenden Bevölkerung.
Eine zweite Steigerung geschah, als Könige, Prie-
ster und Herren die Kunst ihren Hofhaltungen
dienstbar machten, denn es wuchs die Größe der
Aufgaben, es entstand, von reicheren Mitteln ge-
fördert und dem Alltäglichen überhoben, ein Zu-
sammenwirken der Kräfte zu vorbildlichem, monu-
mentalem Schaffen.
Die dritte und höchste Weihe wurde der Kunst
durch Eroberung aufgezwungen. Kunstfremde,
aber hochgeartete, dem Wesentlichen zugewandte
Kriegsstämme unterwarfen die kunstfertige Zivili-
sationsmasse, die an die Grenze ihrer eigenen Ent-
wicklungsmöglichkeit gelangt war, und festigten ein
107
Adelsregiment, das wohlwollend und aufs Große
gerichtet die Kunst zu sich emporzog, indem es ihr
den Inhalt des individuellen, des seelenhaften, des
gefühlstiefen Lebens verlieh. Bis in die historische
Zeit hinein können wir derartige Vorgänge gewalt-
samer Befruchtung verfolgen; Oberitalien, Nord-
frankreich, Sizilien, Spanien bezeugen sie. Daß
Hochkultur niemals anderen als zweischichtigen,
von kriegerischen Aristokraten beherrschten Na-
tionen beschieden war, haben wir uns vergegen-
wärtigt, wie auch ferner, daß erst der Vermischungs-
prozeß die letzten und tiefsten Kräfte entbinden
konnte.
War die Mischung geschehen, die Masse geflossen
und beruhigt, so geschah in allen Jahrhunderten
und in allen Nationen das Gleiche, in Griechenland
wie im Italien der Renaissance, in Holland wie in
Frankreich, in Italien wie in Deutschland : die Kunst
hatte ihren transzendenten, ihren religiösen, ihren
seelenhaften Inhalt verloren, sie war wiederum zur
rein sinnlichen Kunst geworden.
Das Wort fordert eine Erläuterung. Freilich muß
alle Kunst vor allem anderen sinnlich sein, denn
durch die Sinne wird sie uns zuteil und wirkt auf
unser inneres Leben. Unter rein sinnlicher Kunst
aber soll diejenige verstanden sein, die auf dem
Wege der Sinne nur das sensitive, nervöse, der Erde
zugewandte und von ihr abhängige Leben ergreift,
während transzendente Kunst bis in das Urgebiet
der Seele, bis in die undifferenzierten Regionen
vorzudringen vermag, in denen jenseits aller Wün-
sche und Begierden die ewige Einheit und Harmonie
ahnbar wird. Den Gegensatz des Sinnlichen und
Transzendenten kann man nicht deutlicher als in
io8
Beethovens Kunst erfassen, etwa im Vergleiche des
Septetts oder der Fidelioouverture mit der Missa
Solemnis. Im Sinne dieser Unterscheidung be-
schränkt sich der Begriff der sinnlichen Kunst
durchaus liicht auf das Gebiet niedriger Reizungen;
auch Gebilde unvergänglicher Schönheit sind in
diese Bestimmung eingeschlossen, wie die vom
Pathos der Angst und der Beschwörung durch-
tobten Psalmen der Hebräer.
Dies aber kennzeichnet die Künste der Ver-
schmelzungsepochen, daß sie immer wieder den
Weg eingeschlagen haben vom Religiösen zum Ek-
statischen und Deklamatorischen, vom organisch
Struktiven zum stimmungsmäßig Koloristischen,
vom Architektonischen zum Dekorativen, vom Ge-
mütvollen zum Sentimentalen, vom Ergreifenden
zum Sensationellen; symbolisch gesprochen: von
der Linie zur Farbe und vom Organismus zum
Eindruck.
Während der früheren Perioden der Abstiege
wurde die Kunst aus ihren beiden ältesten Bin-
dungen, der handwerklichen und der höfischen,
nicht entlassen; im Gegenteil, ihre äußeren Fesseln
verengten sich. Der souveräne Auftraggeber war
anspruchsvoller, verwöhnter, eigensinniger gewor-
den und zwang das Metier zur äußersten Anspan-
nung seiner technischen Fertigkeiten, und an die
Stelle kontrollierenden aristokratischen Geistes trat
die geschulte Zunft der Kenner, die nicht aus
Reinheit des Empfindens, sondern nach bequem
erlernbaren Regeln urteilte und Tradition in Kon-
vention verwandelte. Unter solchem Zwang kamen
seelenlose, aber meisterlich vollendete Werke zu-
stande, die durch die Jahrhunderte hindurch immer
109
wieder das Gefallen der Mächtigen erregten, und
die von einzelnen für unsere Zeit ersehnt werden.
I Freilich vergebens. Denn die mechanistische
Epoche hat längst diese beiden Bindungen derKunst
gelöst. Die eine mußte fallen, weil bei erhöhtem
Volkswohlstand und doppelt erhöhter Kunstpro-
duktion nur noch die bürgerliche Gesellschaft als
Bestellerin auftreten konnte; die andere, weil alles
Handwerk erstarb und mit ihm der Stolz der Ge-
schicklichkeit, der Übung und der Überlieferung.
So war die Kunst befreit durch den Bruch der
Kontrolle und den Bruch der Tradition; aus Hof-
kunst wurde Bürgerkunst, aus Handwerkskunst
Talentkunst. Gleichzeitig aber war eine dritte
Richtung der Freiheit eröffnet; denn durch For-
schung, Verkehr und technische Mittel erschlossen
lag plötzlich alles vergangene, alles fremdländische
Kunstwesen handgreiflich vor aller Augen. Man
erkannte, daß, von wechselnden Verhältnissen be-
dingt, jede Form, jede Richtung, jeder Inhalt mög-
lich, keine Bedingung absolut, keine Lösung ewig
war. Nun begann ein Wühlen und Wählen, das
nun schon drei Menschenalter andauert, und dahin
zu führen scheint, daß man künstliche Bedingt-
heiten möglichst nationaler Art erfindet, um nicht aus
Reichtum zu verarmen und den beschämenden Weg
der karnevalistisch travestierenden Mode zu wandeln
Maß man also von Schranken befreite Sinnes-
kunst als das Kunstideal der Mechanisierung be-
zeichnen, so darf daran erinnert werden, daß eine
Länder und Generationen überblickende Betrach-
tung ebensowenig zu Wertbemessungen wie zu aus-
schließlichen Urteilen gelangen darf. Das vorah-
nende Fühlen der Kunst, vielfach zusammenwirkend
HO
mit der Kontraimitation, die den rasch abstumpfen-
den Geschmack dieser Zeit dem Kontrast entgegen-
treibt, hat zeitiger als auf anderen Lebensgebieten
Gegenströmungen in der Kunst erweckt, die auf
Beschränkung und Verinnerlichung hinstreben.
Freilich haben solche Regungen, die uns vornehm-
lich in der deutschen Dichtung entgegentreten,
einen doppelten Kampf zu bestehen: mit den
Schreibern, die Rückfälligkeiten ahnden — denn
im Kunstbetriebe verlangt man nach mechanisti-
schem Gesetz stets das äußerlich Neue — und mit
dem Publikum, das seine sauer erworbene Revo-
lutionsgesinnung noch lange nach Friedensschluß
zäh verteidigt.
Inzwischen spielen die Wirkungen der mechani-
sierten Produktionsform unmittelbar in die Werk-
stätten der Künste hinein. Die Erschwerung des
Existenzkampfs, die Konkurrenz, der massenhafte
Bedarf und seine massenhafte Deckung, die Publi-
zistik, das Ausstellungswesen, die Aushilfsbeschäf-
tigungen treiben zu hastiger, skizzenhafter, äußer-
lich aufgereihter Produktion; die Grenzgebiete
zwischen Kunst und Geschäft verzehren einen star-
ken Teil der Arbeitskraft. Das Spiel der Mode tritt
hinzu, der Drang zum Neuen, die Vormacht des
weiblichen und des gewerbsästhetischen Urteils, zu-
letzt die geschäftliche oder tendenziöse Begründung
der Aufträge; so darf es nicht wundernehmen, daß
die bedächtigste der Künste, die Architektur, unter
der Mechanisierung ihrer vielgeschäftigen. Betriebe
zum kunsthistorischen Dekorationsgeschäft herab-
sank, und daß die jüngste französische Malerei in
Technik und Inhalt ihrer Werke sich indianischen
Darbietungen nähert.
III
Das Ideal der Wissenschaft. Welch wunder-
bare Vorbestimmung für Wissenschaftsbetrieb den
germanisch durchsetzten Völkermischungen inne-
wohnt, haben wir gesehen. Die Liebe der Urvölker
zum Tatsächlichen als Grundlage der Forschung,
die Idealität der Germanen als unbeirrbare Instanz
der Betrachtung mußten sich verbinden, um das
mechanistische Wunder der Zeiten, die moderne
Gesamtwissenschaft, möglich zu machen. Die eigen-
tümliche Richtung jedoch, die den Wissenschafts-
geist zum mächtigsten Faktor der Mechanisierung
erhob, verdankt sie der Zweckhaftigkeit der einstig
Unterdrückten. Wenn der phantastische Mensch
sich mit der vereinfachenden Erklärung begnügt
und den Donner als Gottesstimme, den Himmel als
eherne Sphäre hinnimmt, so verlangt der Zweck-
hafte, die Erscheinung sich dienstbar zu machen,
sie ganz zu besitzen, wie er sagt: dahinterzukom-
men. Er stellt die sieben Fragen, wittert Wider-
sprüche, verlangt Beweise. Diese Beweise aber kann
nur die Rechnung liefern, weil sie als unumstößlich
gilt, und so beginnt er zu zählen, zu messen, zu
wägen, zu rechnen. Es hat etwas Einleuchtendes,
daß Nomaden, die ersten Besitzer zahlenmäßiger
Güter, Erfinder des rechnerischen Denkens auf Er-
den gewesen sind; und somit wären die Patriarchen
der Hirtenvölker nicht nur die Väter des Kapitals,
sondern auch der exakten Wissenschaft. Indem nun
die Wissenschaft die rechnerische und experimen-
telle Ermittlung des Gesetzmäßigen zum höchsten
Prinzip erhob, entäußerte sie sich in einem Akt
großartiger Selbstverleugnung für immer der Spe-
kulation und der Hoffnung auf absolute Erkenntnis.
Sie widmete ungezählte Geschlechter der Lösung
112
umschränktester Aufgaben, indem sie es sich ge-
nügen ließ, das ungemessen zuströmende Material
des Tatsächlichen in das Netzwerk der Gesetz-
mäßigkeiten zu verflechten und hierdurch für die
Menschheit erträglich zu machen. Der Mechani-
sierung zugeführt, hat die Summe der entdeckten
und errechneten Tatsachen und Zusammenhänge
erstaunliche technische Ergebnisse gezeitigt; im
Sinne der Erkenntnis gemessen, hat sie das Gebiet
des Unbegreiflichen zwar mit neuen Fragestellungen
bestürmt, jedoch nicht verkleinert, sondern ver-
größert. Das Prinzip der mechanischen Gesetz-
mäßigkeit aber hat sich derart als wissenschaftliche
Denkform unserer Zeit festgesetzt, daß die er-
zählenden, schildernden und urteilenden Wissen-
schaften nur so weit als reine Wissenschaften er-
scheinen, als sie sich dieser Form bedienen können,
im übrigen als Verwandte der Technik und der
kritischen Kunst sich anlassen.
Der zweckhafte Einschlag, der die Wissenschaft
zur Exaktheit zwang und ihr Ideal zu einem im
höchsten Sinne geometrischen machte, durchdringt,
wie den Betrieb, so die Menschen, die ihm ange-
hören, und unterscheidet sie auf das entschiedenste
von künstlerisch schaffenden.
In einer Zeit, die den gewaltigsten Besitz der
Urvölker, die ethische Produktivität, noch nicht zu-
tage gefördert hat, sind sie die höchsten Vertreter
des Zweckmenschentums, und ihr geistiger Schatz
kann als der Idealismus der Materiellen gelten.
Daß das politische Ideal unserer Zeit, soweit
^ es auf die Verhältnisse der Völker zueinander sich
bezieht, im Nationalismus zu suchen ist, mag auf
den ersten Blick befremden. Denn das Netz der
I
t.8 . 113
Mechanisierung ist international : niemals waren die
Völker einander so nahe, niemals haben sie der
Wechselwirkung so sehr bedurft, einander so viel
besucht und so gut gekannt. Da aber der Na-
tionalismus als Zentralgedanke sehr jung, kaum
mehr als hundertjährig die Politik beherrscht, da er,
aus bewußtem Gegensatz zum Kosmopolitismus des
Aufklärungsalters entstanden, gemeinschaftlich mit
der Mechanisierung aufgewachsen ist, so muß sein
Ursprung wo nicht im Wesen, so doch in den Mo-
dalitäten der Mechanisierung begriffen werden.
Indem wir nun das Paradox zu erklären suchen,
wie die fortschreitende Homogenisierung und An-
gleichung der Völker ihren Willensausdruck in die
Betonung der relativen Gegensätzlichkeiten stellen
konnte, müssen wir uns erinnern, daß die Hochperiode
der Mechanisierung die europäische Welt in einem
Augenblick tiefster politischer Zerklüftung über-
rascht hat. Vereinigt standen zu Anfang des letzten
Jahrhunderts die leitenden Mächte Frankreich
gegenüber, so wie sie in etwas veränderter Konstel-
lation seit Ende des Jahrhunderts Deutschland
gegenüberstehen. Das, was sich in der Zwischen-
zeit ereignet hat, ist seit Philipps und Alexanders
Tagen in der Weltgeschichte nicht erhört worden:
ein armes, mäßig bevölkertes, politisch verwahr-
lostes Land erhebt sich innerhalb dreier Menschen-
alter zum begütertsten, volkreichsten, kriegerisch
gefürchtetsten im Kreise der europäischen Völker.
Die Geschichte betrachtet noch immer, obwohl sie
es leugnet, die politischen Ereignisse als die pri-
mären und erblickt in den drei preußischen Kriegen
das Moment der Erhebung. Es tut der Größe der
Menschen und ihrer Taten keinen Abbruch, wenn
114
erklärt wird, daß ohne die Mechanisierung Deutsch-
lands der Zuwachs an Volk und Reichtum, ohne ihn
die Erhebung nicht mögHch war, die ihrerseits dann
abermals auf die Mechanisierung mächtig rückge-
wirkt hat. Das XIX. Jahrhundert gehört, trotz des
Ausbaus der englischen Kolonialmacht, den Deut-
schen und Amerikanern, und beiden aus wirtschaft-
lichen Ursachen: den Amerikanern, weil sie das
reichste Land der Erde erschlossen, den Deutschen,
weil sie der bürgerlichen Intelligenz ein angepaßtes
Arbeitsfeld gewannen.
Moderne Kriege sind im Völkerleben das gleiche,
was Examina im bürgerlichen Leben sind, Befähi-
gungsnachweise. Den Befähigungsnachweis als
Großmacht hat Preußen mit deutscher Hilfe er-
bracht; der Befähigungsnachweis als führende Wirt-
schaftsmacht Europas wird Deutschland über lang
oder kurz von den wetteifernden Nationen auf-
gezwungen werden. Im Vorgefühl dieser Abrech-
nung ist nicht nur alles Kriegsspiel unserer Zeit,
sondern auch alles Wirtschaftsspiel Rüstung. Jede
neue Industrie und jede neue Handelsverbindung
ist ein Gegenwert von Bataillonen. Alle Politik ist
Wirtschaftspolitik, Kriegsbereitschaft.
Dies bedeutet der Nationalismus unserer Zeit,
der somit eine Reaktion auf die ungleichmäßige
Verteilung der mechanistischen Vorteile darstellt.
Wiederholen wir kurz den Kreisprozeß: Im
Augenblick heftigen Zwiespalts wird den Völkern
eine Wirtschaftsform aufgezwungen, die eigentlich
für geeinigte Völker bestimmt ist. Getrennt bildet
man sie aus; es zeigt sich, daß eine bevorzugte Na-
tion die unvergleichlich größten Vorteile zieht, weil
sie die besten Voraussetzungen besitzt. Diese Na-
8* IIS
tion erhebt sich aus politischer und wirtschaft-
licher Nichtigkeit zum bestimmenden Faktor und
besiegelt diese Stellung mit dem Schwertknauf.
Der Moment zur wirtschaftlichen Einigung ist ver-
paßt ; die friedliche Konkurrenz wird zur wirtschaft-
lichen Rüstung, und die Nationen stehen feindlicher
als zu Beginn der Epoche einander gegenüber.
Der letzte Schritt, die Überleitung des natio-
nalistischen Empfindens aus dem politischen Be-
wußtsein in das bürgerliche, ging bewußt von
Deutschland aus, und zwar von der politisch herr-
schenden Klasse, die ihre Interessen von der Me-
chanisierung nicht genügend gefördert sah und da-
her kein Bedenken trug, ihr den internationalen
Boden zu entziehen. Durch den deutschen Schutz-
zoll wurde der private ausländische Konkurrent ge-
troffen, und indem er sein eigenes Land zu Ver-
geltungen drängte, nährte er bei sich selbst und
seinen Landsleuten gleichzeitig das nationale Be-
wußtsein und die Abneigung gegen den Rivalen;
beides zuerst im wirtschaftlichen, dann überwiegend
im politischen Sinne.
So will es scheinen, als sei der Nationalismus, in
seiner Eigenschaft als Brotfrage, für alle Zeiten ver-
ankert. Er ist es nicht, denn das Widersinnige ist
nicht von Dauer.
Es braucht wohl nicht ausgesprochen zu werden,
daß der Name des Nationalismus hier nicht als
Gleichsinn des Wortes Patriotismus genannt wird,
daß vielmehr unter jenem Begriff die Tendenz
verstanden ist, die Nationen in ihren Lebens-
funktionen abzusondern, ihre Vergesellschaftung zu
hindern. Auch in dieser Bedeutung bleibt der Na-
tionalismus in seiner Urform berechtigt: es darf
ii6
einer Nation nicht zugemutet werden, fremder
Sprache, fremdem Glauben, fremder Kultur und
fremder Obrigkeit sich zu fügen; das Weltcäsaren-
tum hat seine Berechtigung verloren, und ein ab-
soluter Kosmopolitismus wird als politisches Ideal
schwerlich wiederkehren. Indessen ist es durchaus
denkbar, daß die staatlichen Organisationen über
den Rahmen des Staates hinaus einen unvergleich-
lich weiteren Ausbau erfahren, als bisher durch
völkerrechtliche, schiedsrichterliche und postalische
Vereinbarungen geschehen. Denn dies ist der Me-
chanisierung und der Natur gemeinsam, daß ihre
Organisationen nach dem Großen wie nach dem
Kleinen hin, nach innen wie nach außen ins Unend-
liche wachsen. So wie Zellen zum Leibe, Indi-
viduen zu Landesverbänden, Landesverbände zu
Reichen sich zusammenschließen, so wird eine
engere Vergesellschaftung der Reiche unausbleiblich
sein; und in dem Maße, wie sie fortschreiten, wird
es fraglich werden, was das wünschenswertere ist;
wenige große Komplexe locker gefügt, oder viele
kleine Komplexe fest gefügt und eng vereinigt. In
diesem Sinne ist das Deutsche Reich ein glücklich
gestalteter Organismus, der um so dauerhafter sein
wird, je mehr er seinen Teilen größtmögliche Frei-
heit individuellen Lebens erhält.
Die Entfesselung aus den Banden des Nationalis-
mus aber wird nicht sowohl durch Kongresse und
Schiedsverträge geschehen, als durch wirtschaftliche
Verständigungen. Vielleicht werden die ersten
Schritte zu Zoll Vereinigungen führen, und es wäre
mehr gewonnen, als durch Bündnisse sich erreichen
läßt, wenn nach mehreren Seiten hin die deutschen
Zollgrenzen verschwänden.
Das Ideal des staatlichen Auf baus im Sinne
der Mechanisierung ist der Verwaltungsstaat. So-
sehr die Bezeichnungen des Regierens und der Re-
gierung uns vertraut sind, so kann doch nicht ge-
leugnet werden, daß die Zahl und Mannigfaltigkeit
der Interessen und Bedürfnisse innerhalb einer
mechanisierten Gemeinschaft den wahren Begriff
des Regierens, die Leitung einer Menge durch über-
legenen Willen und überlegene Einsicht zu vorbe-
stimmten Zielen, nahezu aufgehoben hat. Der Be-
griff der Verwaltung hingegen kennzeichnet sich
als Ausgleich berechtigter Interessen durch be-
stimmte Instanzen, wobei allerdings gewisse prak-
tische und ideelle Endziele vorschweben können;
jedoch dürfen diese auf die Dauer nicht außerhalb
der Linie liegen, die der Schwerpunkt der aner-
kannten Interessen ohnehin beschreibt. Dem Ein-
zelnen steht die Verwaltung tatsächlich, der Ge-
meinschaft nur scheinbar als regierende Obrigkeit
gegenüber, und ethnologische Verschiedenheiten
finden nur insofern statt, als die Gesamtheit in
einem Falle vorwiegend initiativ, im anderen Falle
vorwiegend prohibitiv ihren Willen zur Geltung
bringt. Freilich sind die sozialen Gruppen mit ver-
schiedener Stärke an der Instrumentation des Ge-
samtwillens beteiligt, und man kann sagen, daß in
fast allen älteren Kulturstaaten die früheren abso-
luten Gewalten, Adel und Klerus, eine gewisse
Vormacht sich erhalten haben; so ist Österreich
ein ausgesprochen kirchlich, Preußen ein ausge-
sprochen aristokratisch verwaltetes Land.
Auch die monarchischen Gewalten haben im
Verwaltungsstaat ihre Bedeutung behalten, zum
Teil erhöht. Der größere Teil der europäischen
Ii8
Staaten bestellt aus Monarchien, und es darf be-
hauptet werden, daß das republikanische Ideal des
XVIII. Jahrhunderts dahinschwindet. Dies ist im
Sinne der Mechanisierung durchaus folgerichtig;
denn es besteht ein berechenbarer Vorteil darin,
an der höchsten Spitze der Verwaltung, dort, wo
die leiseste Willensregung im Abstieg zur Peripherie
die heftigsten Bewegungen auslösen kann, Ange-
hörige eines Hauses zu wissen, das, allen bürger-
lichen Interessen seit Menschenaltern und für alle
Zukunft enthoben, seine Existenz mit der des
Staates gleichzusetzen gelernt hat. Aufgabe der
Verfassung ist es dann, die noch verbleibenden
menschlichen Schwächen — von denen eigentlich
nur Eitelkeit za fürchten ist — so weit zu neutrali-
sieren, daß eine Einseitigkeit der Entscheidungs-
funktionen vermieden wird. Vorzüglich haben
Greise und Frauen sich als verwaltungsstaatliche
Souveräne bewährt. '
Falsch wäre es, zu folgern, daß im mechanisierten
Staatswesen die persönliche Willenswirkung des
Monarchen sich verflüchtigt. Sie wird aber um so
machtvoller sein, je mehr er sich entschließt, allen
äußeren Interessen und Einflüssen fernzustehen.
Der Parteimonarch ist im modernen Staate unmög-
lich; der Klassenmonarch setzt sich Rückschlägen
aus und schädigt seine Autorität; der gänzlich un-
interessierte Monarch, der seine Existenz auf die
Gesamtheit der Nation stützt, wird dasjenige Or-
gan des Staatsgehirns bedeuten, das in Analogie
der transzendenten Willensfreiheit des Individuums
den Zweifel besiegt und den Charakter bestimmt.
Als Ausdruck dieser irdischen Uninteressiertheit ist
denn auch die Idee einer Gottesverantwortung
* 119
wohl verständlich, wobei freilich leicht eine Ver-
wechslung von persönlichen Wünschen mit gött-
lichen Inspirationen sich ereignen kann. So wäre
angesichts dieses mystisch klingenden Wortes die
Erinnerung an ein friderizianisches mit einer klei-
nen Variante statthaft: daß Gott im Kriege hinter
den stärkeren Bataillonen und im Frieden hinter
den wichtigeren Interessen steht.
Im Gegensatz zur monarchischen Autorität ist
die politische Vormacht des Adels im Absteigen,
denn sie findet in der mechanistischen Gesellschaft
keine reale Stütze, vielmehr wetteifernde Mächte.
Der preußisch-deutsche Aristokratismus, der un-
gebrocheil^te in Europa, ist aus Gründen, die wir
gestreift haben, durch preußische Verfassung und
Verwaltungstradition gewährleistet und somit auch
für die nähere Zukunft ausreichend verankert.
Preußen verdankt ihm viel, denn er hat einen Be-
amten- und Offizierskörper herangebildet, der an
praktischem Idealismus, Mut und Pflichttreue alle
Hierarchien des XIX. Jahrhunderts überstrahlt
und von dem sinnlich schwer faßbaren Vorgang,
daß eine höher organisierte Oberschicht ein ganzes
Volksleben zu kontrollieren vermag, uns ein voll-
kommenes Bild gibt.
Obwohl der preußische Adel die Kraft bewährt,
aus kleiner Menschenzahl viele und bedeutende
Talente zu prägen, ist seine Veranlagung nicht
eigentlich intellektuell. Seine großen Vorzüge be-
ruhen auf einem unbeirrbaren Sinn für das Ehren-
hafte, einem scharfen Blick für das Praktisch-nütz-
liche, auf Mut, Ausdauer und Genügsamkeit. Ehr-
geiz, Streben nach Verantwortung, Freiheit des
Gedankens, Erfindungskraft, Anpassungsfähigkeit
I20
sind nur seinen größten Talenten eigen, dem
Durchschnitt fremd.
Solange daher unter einfacheren und langsamer
wechselnden Verhältnissen die Verwaltungstätig-
keit etwa nach Art der Gutswirtschaft erlernt und
auf traditioneller Grundlage patriarchalisch ausge-
übt werden konnte, blieb der preußische Regie-
rungsadel unübertroffen. Daß er neuen Gedanken-
formen und Arbeitsmethoden gegenüber teilnahm-
los auf der Überlieferung beharrte, war 1806 sein
Schaden, 1849 sein Vorteil. In dem Maße nun,
wie die mechanistische Weltwirtschaft ganze Ge-
biete der Staatsverwaltung in reine Geschäfts-
betriebe verwandelte, der Wechsel der Anschau-
ungen und Aufgaben ein tägliches Umlernen, ein
beständiges Erfinden forderte, zeigte es sich, daß
zwar die alten Eigenschaften noch immer höchst
schätzbar und unverkürzt vorhanden waren, daß
aber der vorzüglichste Menschendurchschnitt nicht
immer ausreichen konnte zur Lösung vorgangloser
Aufgaben und zur Konkurrenz gegen die stärksten
Talente des Auslandes.
Denn inzwischen war im Auslande, insbesondere
in England und Frankreich, einigermaßen auch in
Österreich, Rußland und Italien, bewußt oder un-
bewußt die Erkenntnis durchgedrungen, daß oberste
Verantwortlichkeiten nur von entschiedenen Ta-
lenten getragen werden dürfen, und daß es für
Millionenstaaten keine Entschuldigung gibt, wenn
diese Talente nicht aufgefunden werden. So haben
sich ohne Zutun der Gesetzgebung als Folge einer
freieren Praxis in jenen Staaten selbsttätig wirkende
Selektionsmethoden von größter Verschiedenheit
herausgebildet, die aber alle darin übereinstimmen,
♦ 121
daß sie die Talente des Landes aus den Millionen
der Mindergeeigneten aussieben, an die Oberfläche
tragen und den Verantwortungen zuführen, für die
sie von Natur bestimmt sind. Solche selbsttätige
Selektionsmethoden zu erläutern ist hier nicht der
Platz ; es genügt zu bemerken, daß Preußen sie nicht
kennt, und somit darauf angewiesen ist, aus hundert-
fach kleinerem Material nach veralteter Übung die
Rekrutierung seiner ersten Geschäftsführer vorzu-
nehmen. So fällt denn die doppelt erschwerte Auf-
gabe der Entdeckung höchster Begabungen drei
Königlichen Kabinetten zu, und es kann kommen,
daß bei gesteigerten Ansprüchen an Vermögen,
Herkunft, Repräsentation und Glanz der Persön-
lichkeit die schwersten Verantwortungen in Krieg
und Frieden nicht immer auf den stärksten Schul-
tern ruhen. Es ist ein schönes Zeichen der Festig-
keit des preußischen Gefüges und der Brauchbarkeit
des aristokratischen Durchschnitts, daß bisher erst
auf zwei Gebieten vorwiegend geschäftlicher Art,
freilich auch entscheidender Wichtigkeit, dieMängel
des Systems offenkundig geworden sind: im Kolo-
nialwesen und in der auswärtigen Politik. Grund-
sätzliche Mängel eijies Aufbaues können auf die
Dauer nicht ohne Gefahren bleiben; es ist zu
hoffen, daß es nicht allzu schwerer Erschütterungen
bedarf, um sie zu beseitigen, und daß nicht eine
allzu heftige Reaktion das Gute mit dem Fehler-
haften vernichtet und uns in die Arme des Amerika-
nismus treibt.
Ein weiterer Mangel in der Anpassung des preu-
ßischen Verwaltungsstaates an die herrschende
Mechanisierung ist zu erwähnen. Mechanistische
Geschäfte erfordern zwar einen gewissen Oppor-
IZZ
tunismus im Anschluß an den Wechsel der Erforder-
nisse und die Ansprüche des Tages, der Sieg aber
steht dem zu, der durch die Klippen des Augen-
blicks steuernd den Fernpunkt eines weit erspähten
Zieles nicht aus dem Auge verliert. In parlamen-
tarischen Staaten ist das Fernziel Erbteil einer
führenden Partei, somit eines Volksteiles. Mini-
sterien wechseln und sterben aus; das Parteiziel
bleibt erhalten, und der scheidende Politiker ist
zufrieden, wenn er auch nur einen Fußbreit sich
ihm nähern konnte, in dem Bewußtsein, daß sein
Genosse oder er selbst dereinst berufen sein wird,
die Arbeit fortzusetzen. In der Ruhezeit verfolgt
das Staatsschiff den Kurs der Gegenpartei, berührt
andere Inseln und bleibt doch bereit, die ununter-
brochene Fahrt von neuem aufzunehmen. So ent-
steht eine politische Tradition, eine Politik der
Diagonale und die Möglichkeit, Aufgaben zu stellen
und zu lösen, die Jahrzehnte erfordern.
In Preußen beschränkt sich die ministerielle
Lebensdauer auf wenige Jahre. Der Minister kann
keiner Partei angehören, denn er muß die Fiktion
vertreten, daß die vom Parlament unabhängige
Regierung sozusagen im Absoluten wurzelt; somit
kann er sich auf eine Parteitradition nicht stützen.
Hegt er dennoch weitausschauende Pläne, so wird
er doppelt Bedenken tragen, sich und seinen Stab
ihnen zu widmen: denn er selbst wird die Ver-
wirklichung nicht erleben, und sein Nachfolger wird
vielleicht damit beginnen, das mühsam gelegte
Fundament so gründlich zu zerstören, daß kein
Späterer Lust findet, es zu erneuern.
Deshalb fehlt es im preußischen Deutschland
trotz aller Tradition der Verwaltung, seit Bis-
123
marcks Abgang an politischer Tradition, an poli-
tischen Ideen und an politischer Langatmigkeit.
Da auch dieser Fehler in der Konkurrenz der
Staaten sich geltend zu machen beginnt, zumal in
dem Sinne, daß unsere außenpolitischen Ziele stark
zusammengeschmolzen sind, so wird die Abhilfe
nicht mehr lange auf sich warten lassen.
So müssen wir am Schluß dieser Zwischenbe-
trachtung fast mit Erstaunen die paradoxe Tatsache
feststellen, daß Preußen-Deutschland, das führende
Land der europäischen Mechanisierung, das viel
gefürchtete und viel bewunderte Land der Technik,
das stärkste Industrieland der alten Welt, das Land
der erfolgreichsten Geschäftsleute, sich in seiner
politischen Ordnung den einmal gegebenen Ver-
hältnissen der Mechanisierung so wenig angepaßt
hat — und zwar ohne Überlegenes an ihre Stelle
zu setzen — , daß es weder seine öffentlichen Ge-
schäfte selbst verwaltet, noch eine ausreichende
Zahl von Talenten für entscheidende Verantwor-
tungen aufbringt, noch klare und bedeutende poli-
tische Ziele besitzt, noch auch — wie wir leider
hinzusetzen müssen — dem Auslande gegenüber
jederzeit den Einfluß ausüben kann, der einem Ver-
teidigungsaufwand von zwei Milliarden und der
stärksten Territorialarmee aller Länder und Zeiten
entspricht.
Dies Bild eines Staatswesens, das sich gegen das
mechanisierende Ideal zu wehren sucht, ist für un-
sere Betrachtung doppelt lehrreich. Einmal, weil
es zeigt, welche gewaltigen Kräfte die Mechani-
sierung aufzubringen vermag, um Widerspenstige
zu bändigen. Schon heute befindet sich das alt-
preußische Herrschaftswesen in einem labilen
124
Gleichgewichtszustand ähnlich dem zu Beginn des
XIX. Jahrhunderts, und es ist nur eines zu hoffen :
daß der zögernde Abbau, der sich in diesen Jahr-
zehnten vollzieht, nicht durch Katastrophen über-
stürzt wird.
Sodann ist es wichtig, festzuhalten, daß der ge-
genwärtige antimechanistische Verwaltungszustand
Preußens in letzter Linie einem Rest von Abhängig-
keitsbedürfnis der ehemals unterdrückten Volks-
schicht seine Erhaltung verdankt. Dieses Ab-
hängigkeitsbedürfnis äußert sich in absolutem Sinne
in der Lust, durch Befehle, Verbote, Anweisungen,
Ermahnungen, Ausschließungen, Privilegien dau-
ernd geleitet und beschränkt zu werden; es äußert
sich in relativem Sinne in der Verehrung und Be-
wunderung, die ohne bewußte Kenntnis der Ur-
sache dem anerkannt edleren Blute, dem ausge-
sprochenen Herrentume gezollt wird.
Das Rudiment vormechanistischer Empfindungs-
weise, das hier zutage tritt, führt uns zurück zu der
Übersicht der zeitgenössischen Ideale, die wir so-
eben beendet haben.
Die Mehrzahl dieser Bilder trägt noch die Züge,
die der älteren Empfindungswelt angehören; um
so ausgeprägter, je weiter wir uns aus dem Mittel-
gebiet des Mechanisierungskampfes nach uninter-
essierten Regionen hin entfernen. Ausgesprochen
altertümlich erscheint das körperliche und das
menschliche Ideal, ausgesprochen neuzeitlich das
wissenschaftliche, politische und staatliche. Es
gleicht auch hierin das Gesamtbewußtsein dem Be-
wußtsein des Einzelnen, daß abseits der interes-
sierten Geistessphären sich vorzeitliche Reste ge-
mütlicher, harmloser, kindlicher und abergläubi-
125
scher Empfindungen erhalten, die aufgesogen wer-
den in dem Maße, wie das Interessenbewußtsein
sich verdeutlicht und ausdehnt. Denn ein der
Menschheit nicht gerade schmeichelhaftes Gesetz
scheint zu bestimmen, daß die uninteressierte Über-
zeugung sich allmählich der interessierten Über-
zeugung anpaßt; mit anderen Worten, daß die
Überzeugung nicht dauernd den Interessen wider-
sprechen kann. Weshalb es denn auch von jeher
verdienstvoller und erfolgreicher war, die Menschen
von falschen Interessen zu befreien, als von falschen
Meinungen.
So kann es nicht befremden, in den Träumen
der Mechanisierung eine gemeinsame Tendenz zu
erblicken, die der philosophische Geist überwunden
wähnt: das Streben nach dem ausschließlich Ver-
nünftigen. Noch immer gehört unser waches Le-
ben der Aufklärung, dem Rationalismus : wie könnte
es anders sein in einer Zeit, die uns beweist, daß
Furcht stärker ist als Mut, Fleiß stärker als Kraft,
Klugheit stärker als Träume? Einer Zeit, die
beständig das Wort im Munde führt: daß sie
weiß, was sie will, und den Erfolg als Gesetz be-
trachtet ?
Wir müssen anerkennen, daß niemals, solange die
irdische Menschheit besteht, eine Weltstimmung so
einheitlich einen so ungeheuren Kreis von Wesen
beherrscht hat, wie die mechanistische. Ihre Macht
scheint unentrinnbar, denn sie beherrscht die Pro-
duktionsquellen, die Produktionsmethoden, die Le-
bensmächte und die Lebensziele : und diese Macht
beruht auf Vernunft.
126
Von der Sehnsucht der Zeit
Trotzdem aber die Mechanisierung noch lange
nicht ihren Zenit erreicht hat, trotzdem sie
ihre Aufgabe, den Weltkreis zu europäisieren, erst
nach Menschenaltern erfüllen und vielleicht auch
dann noch nicht gipfeln wird, trägt sie schon heute
den Tod im Herzen. Denn im Urgrund ihres Be-
wußtseins graut dieser Welt vor ihr selbst; ihre
innersten Regungen klagen sie an und ringen nach
Befreiung aus den Ketten unablässiger Zweck-
gedanken.
Die Welt sagt, sie weiß, was sie will. Sie weiß es
nicht, denn sie will Glück und sorgt um Materie.
Sie fühlt, daß die Materie sie nicht beglückt, und
ist verurteilt, sie immer von neuem zu begehren.
Sie gleicht Midas, der im Goldstrom verschmachtet.
Die Hoffnungen, die aus der Tiefe aufsteigen
und im Geiste Einzelner Bewußtsein erlangen, sind
widerspruchsvoll und daher dem Gemeingeist un-
klar. Denn einem Geiste wird nur das vernehmbar,
was von gleichklingenden Elementen harmonisch
zum Akkorde verstärkt wird, das Widerstrebende
bleibt dumpfes Geräusch. Aus aller Verworrenheit
aber klingt die Stimme der Sehnsucht doppelt er-
greifend, weil sie, das selbstsichere Wort der Be-
wußtseinswelt verleugnend, sich anklagt, was sie
ersehne, das wisse sie nicht.
Wer lehrt den zweifelnden Menschen dieser Zeit,
was er schätzen, lieben, begehren, erstreben darf?
Er wendet sich zur Philosophie; sie antwortet
ihm: so mußte dieser, so mußte jener denken. Um-
stände und Anlage führen zur einen oder zur andern
Weltanschauung. Jede ist wahr, jede ist falsch, je
•f 127
nach der Eröffnung steht das Spiel so oder so. Das
Ergebnis ist Kritik.
Er wendet sich zur Religion; sie zeigt ihm die
Entstehung und Entwicklung des religiösen Ge-
dankens, sie entwirft eine psychologische Analyse
des religiösen Empfindens, projiziert das Wandel-
bild der Glaubensformen und gibt eine Geschichte
Gottes. Die Gottheit wird zum naturgeschicht-
lichen Gegenstand.
Er wendet sich zum Menschen: der eine preist
die alten Tugenden, der andere die neuen. Sinnes-
lust und Beschaulichkeit, Naturgenuß und Erfolg,
Ehre und Freiheit, Pflicht und Reichtum: zuletzt
wird alles der Individualität anheimgestellt.
Er befragt die Wissenschaft. Sie rät ihm, sich zu
spezialisieren.
Die Kunst eröffnet ihm den Bildersaal, der von
Memphis bis Paris, von Mexiko bis Peking alle
Schönheit der Zeiten und Völker birgt. Sie ver-
herrlicht die eine, schmäht die andere Epoche mit
dem Hinweis, daß sie morgen umgekehrt verfahren
wird.
Das Erwerbsleben lehrt, wie man Bedürfnisse
schafft und befriedigt, wie man organisiert und
verwaltet und die käuflichen Güter der Welt ver-
mehrt, damit neue Geschlechter Lebensunterhalt,
Arbeit und neue Zweifel finden.
Es ist, als sei die Welt flüssig geworden und zer-
rinne in den Händen. Alles ist möglich, alles ist
erlaubt, alles ist begehrenswert, alles ist gut. Zu-
letzt tut der Abgrund der Zeiten sich auf, und es
zeigt sich wie in Macbeths Spiegel jedes der Ge-
sichte zu schwankenden Geschlechterreihen erwei-
tert; jeder Mosaikstein des fHmmernden Bildes wird
128
zum endlosen Bande, und in jedem Querschnitt
des Bündels erscheint ein neues Symbol unsäglicher
Relativitäten.
Der Mensch aber begehrt Glauben und Werte.
Er fühlt, daß er Unersetzliches besessen hat; nun^
trachtet er das Verlorene mit List wiederzuge-
winnen und pflanzt kleine Heiligtümer in seine
mechanisierte Welt, wie man Dachgärten auf
Fabrikgebäuden anlegt. Aus dem Inventar der
Zeiten wird hier ein Naturkult hervorgesucht, dort
ein Aberglauben, ein Gemeinschaftsleben, eine
künstliche Naivität, eine falsche Heiterkeit, ein
Kraftideal, eine Zukunftskunst, ein gereinigtes
Christentum, eine Altertümelei, eine Stilisierung.
Halb gläubig, halb verlogen wird eine Zeitlang die
Andacht verrichtet, bis Mode und Langeweile den
Götzen töten.
Dennoch ist dieses Spiel nicht verächtlich, weil
es aus Sehnsucht stammt. Aber es bleibt hilflos
und kindisch, weil auf dem zitternden Boden der
Mechanisierung arkadische Haine nicht gedeihen.
Mancher wählt die Flucht; aber der Amerikaner,
der zwei Jahre lang in Wäldern haust, muß beim
Anblick des Gerätes, des Buches und Kleides, das
er mit sich führt, sich eingestehen, daß er von der
Mechanisierung der andern lebt, daß seine Ein-
siedelei eine Sommerfrische auf Kosten der me~
chanisierten Gemeinschaft bedeutet. Mancher
wählt die Abgeschlossenheit, aber muß empfinden,
daß ein Glück, das sich nicht mitteilt, fehlerhaft ist.
Die Blume vor dem Fenster eines Bauernhauses,
das Lied auf der Landstraße, der Sonntagsasuflug
der Stadtbewohner, das Buch in den Händen des
Arbeiters bezeugen, daß das Volk entschlossen ist,
5' ^ 129
nicht in mechanistischer Zweckhaftigkeit aufzu-
gehen; aber Lesehallen und Volkstheater, populäre
Wissenschaft, Gartenkolonien und halb wohltätige
Unterhaltungen sind bei aller Nützlichkeit allzu-
, dürftige Mittel, um den Seelenfunken anzufachen.
Nicht mehr wäre dem Seelenleben gewonnen, wenn
nach dem Siege des sozialistischen Prinzips um den
Preis trübseligen Ausgleichs ein Zuwachs des Mini-
maleinkommens von 140 Talern erkauft würde.
Mechanistische Mittel werden die mechanistischen
Übel nicht heilen.
Wenn es nicht vermessen erscheint, die Frage zu
stellen: wo die Gegenkräfte der Mechanisierung zu
finden sind, und wie sie ausgelöst werden können,
so muß der Versuch gewagt werden, die Gesamt-
heit dieser Weltbewegung mit einem Blick zu um-
fassen.
Was ist der Sinn der Mechanisierung, was ist ihr
Wesen und Ziel ?
Betrachten wir zuerst ihre Entstehung. Vor An-
bruch der Geschichte waren Kraft und Mut die
höchsten Tugenden des Menschen. Heroische Völ-
ker, gestählt im Kampf mit den Na turmächten,
traten aus ihren Wäldern hervor; sie unterjochten
die schwächeren, friedfertigeren Urbewohner. Der
Kluge war der Knecht des Starken; er diente ihm
mit Arbeit und Künsten und wurde dafür geschützt
und geleitet. Der Unterdrückte sammelte, der Herr
verschwendete sein Erbteil ; Klugheit war zäher als
Kraft; und in dem tausendjährigen Ringen um den
Weltbesitz, das wir Geschichte nennen, siegte nach
Wechselfällen und Rückschlägen, erst hier, dann
dort, zuletzt überall, Intellekt und Zahl über Ge-
sinnung und Tradition. Die Welt erhielt ihr Ge-
130
präge von den Rebellen; an die Stelle der Kaste
trat die Organisation, an die Stelle des Frons die
Maschine. Die einstigen Herren, soweit ihr Blut
nicht in Mischung aufging, waren gezwungen, sich
der Mechanisation anzupassen; nur da, wo glück-
liche Umstände ihnen unveräußerlichen Landbesitz
erhielten, blieben sie im Besitz vo» Vorrechten.
Naturgemäß waren die mechanistischen Einrich-
tungen auf die Eigenschaften ihrer Schöpfer zuge-
schnitten; sie erforderten Intelligenz, Zähigkeit,
Beweglichkeit und Erfindungsgabe. Innerhalb der
geistigen Atmosphäre der Mechanisierung, die wir
zu schildern unternahmen, kämpfen nun die Werte
der alten Gesinnungswelt mit den Werten der neuen
Intellektualwelt. Zwar leben noch die einen in ge-
wissen Schätzungen des Volksbewußtseins fort;
doch für die andern hat der praktische Erfolg ent-
schieden, und in der geistigen Verwirrung, die der
Kampf und das Einleben in veränderte Ordnungen
geschaffen hat, scheint der Augenblick gekommen,
wo die neuen Werte in die Feste des Unbewußten,
des Gefühls, überzutreten beginnen, wo die ein-
seitige, vernichtende Auslese des Intellektualismus,
die bisher vorzugsweise als Ergebnis der Praxis ge-
duldet wurde, jene Rudimente älterer Wertungen,
von denen wir gesprochen haben, hinwegspült, und
sich zum Wahrzeichen der Zeit erhebt.
Hier ist der Punkt, wo zum ersten Male Erkennt-
nis einzugreifen hat. Sie muß zur Schätzung dessen
führen, was die Welt den ethischen und geistigen
Werten der einstigen Oberschicht verdankt, und
muß die Verantwortung erwecken für die Gefahr
der Verarmung, die aus ihrer Vernichtung er-
wächst.
9* • 131
Spätere Zeiten werden nicht begreifen, mit wel-
chem Mangel an psychologischem Instinkt wir den
Gegensätzen menschlicher Geistesrichtung gegen-
überstanden, wie wir über Erscheinungen und Zu-
sammenhänge, die mit Händen zu greifen waren,
hinwegsahen, weil unsere Augen sich auf die merk-
würdigsten Süge unserer Epoche nicht einstellen
wollten. Ja, diese Metapher ist im wörtlichsten
Sinne wahr; es erfordert kaum mehr an physiogno-
mischer Wahrnehmung, um körperlich die Grund-
kontraste zu empfinden, als normale Kinder Frem-
den entgegenbringen.
Vor Jahren habe ich entwickelt, daß Furcht und
Zweckhaftigkeit auf der einen, Mut und Zweck-
freiheit auf der andern Seite die Grundstimmungen
des Menschengeistes ausdrücken. Indem der da-
mals aufgestellte Begriff des Zweckmenschen zum
Gemeingut wurde, hat sich ein Element der Beob-
achtungsreihe gefestigt. Allmählich aber wird in
das Bewußtsein der Gemeinschaft die Erkenntnis
eindringen, daß gewisse, stets verschwisterte Eigen-
schaften regelmäßig im Gefolge der einen, andere
im Gefolge der andern Kategorie auftreten müssen.
Solange Menschen, welche die Merkmale der Eitel-
keit, der Neugier, des Betätigungsdranges, der Un-
wahrhaftigkeit, der Kritiklust, der Unsachlichkeit,
der Trübsal tragen, mit den gleichen Blicken an-
geschaut werden wie diejenigen, welche selbstbe-
wußt, abenteuerlich, wahrhaft, phantasievoll, sach-
lich und heiter sind, so lange ist unsere Zeit gleich-
sam phsychologisch farbenblind. Die Kenntnis der
geistigen Eigenschaftsgruppen wird aber dereinst so
selbstverständlich erscheinen, wie heute etwa die
Unterscheidung der körperlichen Gruppenmerk-
132
male von Kaukasiern und Mongolen. Sie wird
nicht, wie angesichts der einseitigen Färbung un-
serer sprachlichen Charakteristik angenommen wer-
den könnte, zur Verachtung der einen, zur Ver-
herrlichung der andern Gruppe führen — denn die
Beiworte verdanken ihre extremen Wertungen dem
Anschauungskreis der doppelschichtigen Epoche —
vielmehr werden zwei, wenn auch scharf getrennte
Idealtypen sich abstrahieren lassen. Daß auch der
zweckhafte Typ unserer westlichen Anschauung an-
sprechende, ja sympathische Züge entgegenbringen
kann, zeigt das Bild der Erzväter, Sokrates', Epiktets
oder um von Neuzeitlichen zu reden, etwa Voltaires,
Heines, Victor Hugos, Tolstois.
So wird die Erkenntnis menschlicher Qualitäten
uns die Sicherheit der Wertung wiedergeben. Vor
allem aber wird sie verhindern, daß in einseitiger
Auslese die Mechanisierung fortfährt, Gesinnung
zugunsten von Intelligenz zu vernichten; sie wird
bewirken, daß ein Menschenschlag erhalten bleibt,
dem die Welt ihre Schönheit, ihre Phantastik und
höhere Ordnung verdankt.
Entspringt diese erste Forderung aus den Ent-
stehungsbedingungen der Mechanisierung, so müs-
sen die Wirkungsbedingungen dieser Kraft in ent-
sprechender Weise zu umspannen und auszudeuten
sein.
Mechanisierung entspricht wirtschaftlicher Not-
wendigkeit: verzehnfachte Bevölkerung auf un-
veränderter Bodenfläche verlangt neue Wirtschafts-
methoden. Der Kern der Mechanisierung ist der
Produktionsprozeß. Er teilt mit andern undurch-
geistigten oder irrationalen Prozessen ähnlicher Art
— wie zum Beispiel dem Prozeß der persönlichen
Bereicherung oder des Ausbaus von Unternehmun-
gen — die Tendenz, in unablässiger Selbsterregung
den Umtrieb zu steigern, und zwar in doppelter
Erhöhung: einmal so, daß die Produktionssteigerung
die Bevölkerung verdichtet, und gleichzeitig die
Verdichtung wiederum die Produktion erhöht; so-
dann in dem Sinne, daß die Menge der Verbrauchs-
güter den Einzelverbrauch anregt und wiederum
der vermehrte Einzelverbrauch neue Verbrauchs-
güter verlangt.
Den ersten Kreislauf gemäß der Malthusdoktrin
zu durchschneiden, ist wider die Natur und bleibt
außer Betracht. Der zweite Kreislauf greift in
geheiligte Gesetze nicht ein, er ist im Sinne der
Natur willkürlich und daher auflösbar.
Mit dem Lächeln, das uns entlockt wird, wenn
wir von der Freude ostafrikanischer Neger an
preußischen Husarenjacken hören, werden unsere
Nachkommen vernehmen, von welchem Waren-
hunger wir besessen waren. Ein Dritteil, vielleicht
die Hälfte der Weltarbeit geht auf, um der Mensch-
heit Reizungs- und Betäubungsmittel, Schmuck,
Spiel, Tand, Waffen, Vergnügungen und Zerstreu-
ungen zu schaffen, deren sie zur Erhaltung des leib-
lichen, zur Beglückung des seelischen Lebens nicht
bedarf, die vielmehr dazu dienen, den Menschen
dem Menschen und der Natur zu entfremden.
Dies vor Augen zu stellen, genügt es, die Zahlen
einer Produktionsstatistik oder eines mittleren Haus-
halts darauf zu prüfen, wieviel zum Glück und
Leben notwendige Posten es enthält (wobei natür-
lich die Belastungen aus dem Privatmonopol städti-
schen Boden? als Geschäftskosten, nicht als not-
wendiger Verbrauch zu rechnen sind), oder in den
^34
Fensterauslagen einer Hauptstraße die millionen-
fachen Nichtigkeiten zu betrachten, welche die Be-
gierde der Menschen erregen und Tag für Tag mit
saurer Arbeit erkämpft werden.
Es wurde erwähnt, daß die Frauen, die nicht
bloß der Natur, sondern auch den Urvölkern näher
stehen als wir, sich bereitwilliger blenden lassen
vom Schimmer des mechanisierten Produkts, wo-
gegen der Mann sich maßloser dem Genuß der
Zivilisationsgifte hingibt.
Der primitive Irrtum, es sei zu befürchten, daß
bei Beschränkung der Weltarbeit auf notwendige
Produkte die Bevölkerung einen Teil ihres Lebens-
unterhalts verliere, kann hier unberücksichtigt blei-
ben; er bedeutet eine Abwandlung des alten Trug-
schlusses: Luxus sei notwendig, weil er Geld unter
die Leute bringe.
So trägt die Welt einen großen Teil ihrer Me-
chanisierungslast freiwillig; sie wird sich in dem
Maße entlasten, ihre Arbeitskraft und Muße be--
glückenderen Zielen zuwenden und die Zwangs-
gesetze der Mechanisierung durchbrechen, wie sie
auf Nichtigkeiten und Schädlichkeiten verzichtet.
Wer aber in diesen das erstrebenswerte Glück der
Völker erblickt, dem sei es gegönnt, sofern er seine
Torheit nicht andern zumutet.
Seltsam ist es, daß unsere so sehr zum Werten
und Umwerten geneigte Zeit, die heute das Tanzen
und morgen das Beten anpreist, heute das Trinken
und morgen den Sport verurteilt, daß diese Zeit
noch keine Regung des Gewissens verspürt hat
angesichts der ungeheuerlichen Verschwendung an
Arbeit, Geist und Rohstoff, deren der einzelne und
die Gesamtheit sich schuldig macht. Ästhetisches
I3S
Ärgernis an dem Produktenwust hat mancher ge-
nommen; nun steht die Zeit vor der Tür, die in
diesem Narrenkram das materielle Weltverbrechen
erblicken und mit verständnislosem Grauen die
Spielzeuge des XX. Jahrhunderts betrachten Vv^ird.
Es bleibt der dritte Versuch und die umfassendste
Frage: wie dürfen wir die mechanistische Epoche
bewerten, wenn wir sie im Bilde der Menschheits-
entwicklung betrachten.
Niemals, seit Erschaffung des Planeten, war ein
so großes Quantum irdischen Geistes in Bewegung
wie heute. Die Zahl der menschlichen Gehirne
steht im Zenit, und die Denkarbeit geht an die
Grenzen ihrer Kräfte. Vom Denken werden alle
Räder der Welt im Schwung erhalten, und setzte
der sorgende Erdengeist acht Tage lang aus, so
würde das rückwärts stürmende Getriebe alles
Menschenwerk zerschmettern.
Auch die Mechanik des Denkens ist höher ge-
steigert als zu irgendeiner früheren Zeit. Denn
das materielle Wissen ist gewaltig, die Menge der
erkannten Zusammenhänge, der beobachteten Tat-
sachen, der verfügbaren Analogien unermeßlich.
Vor allem aber sind wirksame, der Mechanisierung
angepaßte Methoden und Formen des Denkens
verfügbar, die früheren Zeiten unbekannt, heute
von jedermann mühelos gehandhabt werden, vom
Politiker, Dichter, Reporter und Landwirt. Be-
herrschend für unser Denkwesen ist die Form ge-
worden, die man als Fluxionsmethode bezeichnen
könnte. Sie besteht darin, daß die Erscheinung
nicht mehr als ein fest Gegebenes angesehen wird,
sondern als kontinuierliche Funktion veränderlicher
Faktoren. Auf ihr beruht die mathematische Ana-
136
lysis, die Entwicklungslehre, die historische Be-
trachtungsweise, das naturwissenschaftliche Messen,
die Statistik. In Verbindung mit ihr haben mathe-
matisch-physikalische, philosophisch-kritische, ver-
gleichend naturwissenschaftliche, mechanisch kon-
struktive, praktisch organisatorische Methoden sich
der Geister bemächtigt, und neue Begriffe, Ver-
ständigungsmittel, Lehren und Sprachformen ge-
schaffen. Und wiederum die neuere Sprache selbst,
mit ihren zahllosen Formeln abstrakter Zusammen-
hänglichkeit, bildet ein kräftiges Triebwerk des
mechanistischen Denkens. Deshalb ist es ein frucht-
loses Beginnen, wenn Popularpropagandisten ihr
den Rückweg zum handlichen Ausdruck des Alter-
tums weisen wollen, indem sie nach feststehenden
Rezepten Wort für Wort des mechanistischen Ge-
füges in falsche Bildlichkeiten umsetzen und das
journalistische Gerippe ihrer Darstellung mit Thea-
terlappen behängen. Kraft der Sprache ist nichts
anderes als Kraft der Gedanken; weggelassene Prä-
positionen ändern daran nichts.
Wenn so die Welt im Sinne des Denkens durch
und durch vergeistigt erscheint, so möchte man
glauben, daß ungeheure Erleuchtungen und Fern-
blicke, wahrhafte Seligkeiten des Geistes unserer
Zeit beschieden sein müßten. Nichts dergleichen
ist der Fall; schon die grenzenlose Spezialisierung
macht es unmöglich. Denn wie in einem Bergwerk
die Förderung verarmt, wenn die Längen und Ver-
zweigungen der Stollen das Maß überschreiten, so
gehen die unermeßlichen Erlebnisse und Ent-
deckungen jedes Tages, in Winkeln gestaut, dem
Gesamtleben verloren. Gäbe es Geister, wie die
Humanistenzeit zum letzten Male sie kannte, die
137
den Inbegriff unseres Wissens zu umspannen ver-
möchten: sie würden die Geistesbrücken nieder-
brechen sehen unter der Last des Wissens und zu-
letzt sich bescheiden, alles registrierend hinzuneh-
men, weil denn schließlich von einer jeden Wahr-
heit auch das Gegenteil wahr und erwiesen ist.
Aber die Natur sendet solche Geister nicht;
schon deshalb nicht, weil in den überreichen und
überfeinen Denkapparaten kein Organ sich findet,
das anders wirkt als analysierend, angleichend, ver-
wertend, kritisierend. Fast alles, was geschrieben
wird, kennen wir, bevor wir es gelesen haben; von
fast allem, was gedacht wird, wissen wir das Er-
gebnis, noch bevor es zu Ende gedacht ist. Es
geht uns wie geübten Kartenspielern, die, wenn
die ersten Blätter ausgespielt sind, voraussehen, wie
die Partie verläuft, welche Zwischenfälle eintreten,
ja welche Fehler gemacht werden. Niemals hat
man das Wort Synthese so häufig vernommen wie
in dieser Zeit; aber was sind diese Synthesen?
Ähnlichkeiten, Analogien, Bilder, Symbole, Zu-
sammenhänge; je fremdartiger, desto bekannter,
je verstiegener, desto trivialer, nach stets den gleichen
Rezepten aufgestellt, erläutert, verteidigt und be-
wiesen.
Hier liegt die tiefste Sehnsucht unserer Zeit, die
ihren Sinn sucht. Unbewußt fühlt sie sich ange-
widert vom Denken, vom mechanistischen Denken;
sie hat alles schon einmal gehabt und durchgrübelt,
alles durchgeschätzt, jedes Gefühl sondiert und ab-
geleitet. Sie weiß, wie alle diese Rätsellösungen
schmecken und wie lange sie vorhalten. Sie sehnt
sich nach einem jenseits des Beweisbaren stehenden
Sinn und schrickt davor zurück, weil er ihr will-
138
kürlich scheint; und er ist willkürlich, weil er nicht
in ihrer Seele liegt. Deshalb blickt sie auf zu den
Geistern, die göttliche Überzeugungen in ihren
Seelen trugen, Plato, Paulus, Franziskus, Ekkhart,
und kann doch die Überzeugungen nicht erwerben,
weil sie diese Seelen nicht erwerben kann. Sie
schafft sich Gemeinden, Tempel und Altäre, und
empfindet verzweifelnd, daß sie das einzelne nicht
glauben kann, weil sie alles glaubt, daß sie alles
glauben muß, weil sie nichts glauben kann. Die
Zeit sucht nicht ihren Sinn und ihren Gott, sie
sucht ihre Seele, die im Gemenge des Blutes, im
Gewühl des mechanistischen Denkens und Be-
gehrens sich verdüstert hat.
Sie sucht ihre Seele und wird sie finden; freilich
gegen den Willen der Mechanisierung. Dieser
Epoche lag nichts daran, das Seelenhafte im Men-
schen zu entfalten; sie ging darauf aus, die Welt
nutzbar und somit rationell zu machen, die Wun-
dergrenze zu verschieben und das Jenseitige zu
verdecken. Dennoch sind wir wie je zuvor vom
Mysterium umgeben; unter jeder glatten Ge-
dankenfläche tritt es zutage, und von jedem all-
täglichen Erlebnis bedarf es eines einzigen Schrittes
bis zum Mittelpunkt der Welt. Die drei Strah-
lungen der Seele : die Liebe zur Kreatur, zur Natur
und zur Gottheit konnte die Mechanisierung dem
Einzelleben nicht rauben; für das Leben der Ge-
samtheit wurden sie zur Bedeutungslosigkeit ver-
flüchtigt. Menschenliebe sank zum kalten Erbar-
men und zur Fürsorgepflicht herab, und bedeutet
dennoch den ethischen Gipfel der Gesamtepoche;
Naturl ebe wurde zum sentimentalen Sonntags-
vergnügen; Gottesliebe, überdeckt vom Regie-
139
betrieb mythologisch-dogmatischer Ritualien, trat
in den Dienst diesseitiger und jenseitiger Interessen
und wurde so nicht bloß unedlen Naturen ver-
dächtig.
Es gibt wohl keinen einzigen Weg, auf dem es
dem Menschen nicht möglich wäre, seine Seele zu
finden, und wenn es die Freude am Aeroplan wäre.
Aber die Menschheit wird keine Umwege beschrei-
ten. Es werden keine Propheten kommen und keine
Religionsstifter, denn diese übertäubte Zeit läßt
keine Einzelstimme mehr vernehmlich werden;
sonst könnte sie heute noch auf Christus und Paulus
hören. Es werden keine esoterischen Gemeinden
die Führung ergreifen, denn eine Gcheimlehre wird
schon vom ersten Schüler mißverstanden, geschweige
vom zweiten. Es wird keine Einheitskunst der Welt
ihre Seele bringen, denn die Kunst ist ein Spiegel
und ein Spiel der Seele, nicht ihre Urheberin.
Das Größte und Wunderbarste ist das Einfache.
F^s wird nichts geschehen, als daß die Menschheit
unter dem Druck und Drang der Mechanisierung,
der Unfreiheit, des fruchtlosen Kampfes, die Hemm-
nisse zur Seite schleudert, die auf dem Wachstum
ihrer Seele lasten. Das wird geschehen nicht durch
Grübeln und Denken, sondern durch freies Be-
greifen und Erleben. Was heute viele reden und
einzelne begreifen, das werden später viele und zu-
letzt alle begreifen : daß gegen die Seele keine Macht
der Erde standhält.
Was rufen die Völker aller Zeiten einander zu ?
Erlebnisse ihrer Seelen. Was kümmern uns die
Salben der Ägypter, die Ritualien der Juden, die
Schlachtordnungen der Griechen, die Auspizien
der Römer, die Alchymistereien der Scholasten ?
140
Was ihre Seelen gelitten und geschaffen haben,
ihre Gesänge und Bilder, Gesichte und Ahnungen,
das besitzen wir als ein untrennbares Teil unser
selbst. Was wir im Leben genossen, wenn die
Seele unbeteiligt, was wir erduldeten, wenn die
Seele unverletzt blieb, bedeutet nur einen Reiz und
einen Schatten, zu flüchtig für die Erinnerung.
Die Kunst, die unsern Nerven schmeichelt, der
Gedanke, der nicht in die Tiefe klingt, die Hand-
lung, die unsere äußere Erfahrung« bereichert, sind
tote Dinge.
Gleichviel, wie wir das Herz der Welt zu erfassen
suchen: immer wird uns die Seele, unsere eigene
Seele, entgegentreten. Nehmen wir das Körper-
liche als real und primär, so müssen wir aus Materie
Geist, aus Geist Seele sich losringen sehen : denn das
Atom ballt sich zur Zelle, und aus dem Widerstreit
sich aufhebender Sensibilitätskeime wird Empfin-
dung erkennbar; die Zelle vereinigt sich zum Men-
schen, und aus der Summierung gleichgerichteter
Empfindungselemente wird Geist sichtbar; der
Mensch verbindet sich zur Gemeinschaft, und aus
der widerstrebenden Mannigfalt der Geister tritt
die Seele zutage, die im Einzelmenschen wirkte,
wie der Geist in der Einzelzelle, wie die Empfindung
im Atom, unbefreit und dennoch lebendig. Neh-
men wir das Ich als real und primär, so löst sich
aus der Täuschung der Materie die bedingte Reali-
tät des Geistes, aus dem Geist die volle Realität
der Seele, die sich aus der Trübung befreit, indem
sie sich ihrer selbst bewußt wird. Nehmen wir das
Ich und das Körperliche gleichzeitig als real und
identisch, so erleben wir an uns selbst, aus der
Erfahrung unseres Lebens, die Entwicklung vom
* 141
instinktiven Dasein der Kindheit zum geistigen
Dasein der Jugend und zum seelischen Dasein der
Reife.
Nichts anderes ist erforderlich als die Gewißheit
des Lebens und Wertes unserer Seele; denn es han-
delt sich nicht darum, die Seele zu erzeugen, son-
dern zu entfesseln, und durch diese Gewißheit ist
sie frei und des Aufstiegs fähig.
Diese Erkenntnis ist nicht neu, sondern sehr alt;
wie denn alle Worte, die außerhalb alltäglicher Not
der Geist im Laufe der Jahrhunderte der Mensch-
heit zugerufen hat, stets das Gleiche bedeuten,
nämlich: achte auf deine Seele. Hier bedürfen wir
der Erinnerung deshalb, weil in einer Zeit, die sich
ihrer Entseelung bewußt wird, solche Erfahrungen
eine gewaltige Realität erlangen, eine Realität, die
unabhängig von aller religiösen und philosophischen
Vereinzelung dasteht.
Nein, es wird und kann nichts weiter eintreten
als das Begreifen, daß die Seele wachsen kann, und
daß es wiederum Dinge gibt, die sie verkleinern
und vernichten können. Und dieses Begreifen wird
nicht in Dithyramben oder Bußpsalmen ausklingen,
sondern in Selbstgewißheit und Schweigen. Die
heißen Wünsche der Menschen werden schweigen
lernen, die Wünsche nach käuflichen Freuden, nach
maßloser Bereicherung an äußeren Eindrücken, nach
Beschleunigung des Lebensschritts, nach Extensiv-
wirtschaft und Raubbau des Geistes. Nicht daß
deshalb das Arbeitsleben und der Produktionsprozeß
stillstände; denn auch wenn das Wertlose vom
Wünschenswerten und Nötigen gesondert wird,
bleibt noch viel, noch mehr als heute zu schaffen,
um größere und gleichmäßigere Sorgenfreiheit der
142
Lebensführung zu sichern. Nicht ganz so leicht,
und dennoch gewiß, werden die Begierden schwei-
gen lernen, die den Menschen zum Sklaven der
Meinung machen, die Freude am Neid, am Beifall,
an der Beachtung; ohne daß es deshalb an Män-
nern und Frauen fehlen wird, die aus Lust am
Schaffen, an Verantwortung und Initiative Führer-
schaft leisten und erstreben. Schweigen lernen
wird auch die Kunst; wie denn von jeher un-
aufdringlich und schweigend, und so der Natur
vergleichbar, die großen Werke durch die Zeiten
geschritten sind.
Zieht man die Umwälzungsgeschwindigkeit in
Rechnung, an die uns das XIX. Jahrhundert ge-
wöhnt hat, so wird man die Erwartung des neuen
Zustandes der Menschheit, der sich von dem heu-
tigen nicht wesentlicher unterscheidet als etwa der
zeitgenössische haitianische vom zeitgenössischen
englischen, nicht als utopisch bezeichnen. Freilich
kann nicht zu gleicher Zeit die ganze bewohnte
Welt ihn empfangen; vielleicht wird in Zentral-
afrika noch immer die Glückseligkeit des Waren-
hauses blühen, wenn in Deutschland das Geschrei
der Modeneuigkeiten längst verstummt ist.
Wohl aber wäre es utopische Schwachheit, aus
eigener Unzulänglichkeit die Kräfte ermessen zu
woller^' die in der Menschheit das Reich der Seele
einstmals auslösen wird.
Die mechanistische Entwicklung können wir ohne
Staunen, ja ohne Geistesaufwand ein gutes Stück
zukunftwärts weiterdenken. Ein hundertfach über-
völkerter Erdball, die letzten asiatischen Wüsten
angebaut, ländergroße Städte, die Entfernungen
durch Geschwindigkeiten aufgehoben, die Erde
• H3
meilentief unterwühlt, alle Naturkräfte angezapft,
alle Produkte künstlich herstellbar, alle körperliche
Arbeit durch Maschinen und durch Sport ersetzt,
unerhörte Bequemlichkeiten des Lebens allen zu-
gänglich, Altersschwäche als alleinige Todesart, je-
der Beruf jedem eröffnet, ewiger Friede, ein inter-
nationaler Staat der Staaten, allgemeine Gleich-
heit, die Kenntnisse des mechanischen Naturge-
schehens ins Unabsehbare erweitert, neue Stoffe,
Organismen und Energien in beliebiger Menge ent-
deckt, ja zu guter Letzt Verbindungen mit fernen
Gestirnen hergestellt und erhalten: im Sinne der
Mechanisierung die höchsten Aufgaben, alle lösens-
wert und vermutlich dermaleinst gelöst ; wem macht
es Schwierigkeiten, dies Bild künftiger Bequemlich-
keit und Gelehrsamkeit beliebig auszumalen, und
wen macht es glücklich?
Im Seelischen auch nur einen Schritt über das
dem einzelnen Menschen gestattete Maß vorzu-
dringen, ist unmöglich. Ein Grieche konnte sich
durchaus, und ohne Enthusiasmus, das Fliegen der
Menschen vorstellen, den Hamlet oder die IX.Sym-
phonie konnte er sich nicht vorstellen, ebensowenig
wie ein Mensch der Steinzeit sich die Freude an
einer Gebirgslandschaft oder einer Brandung vor-
stellen konnte. Wir brauchen nicht über das Alter
des Menschengeschlechtes hinauszugehen, um zu
Zeiten zu gelangen, in denen die Seelengewalten
unseres eigensten Lebens, die Liebe der Geschlech-
ter, die Liebe zur Heimat, zu Eltern und Kindern,
zu Gott und Natur noch nicht aus primitiven In-
stinkten hervorgetreten, somit im eigentlichen
Sinne nicht erfunden und auch nicht vorstellbar
waren.
144
Oft hat man die spielende Frage gestellt, was
wohl ein großer Geist des Altertums wiederkehrend
zu den Gestaltungen der neuen Zeit sagen würde.
Wählt man für diese Rolle einen aufs Wesentliche
gerichteten Geist wie den des Plato, so dürfte man
fabeln: die Früchte der Mechanisierung würde er
mit wechselndem Interesse hinnehmen, die höchste
Kunst Europas der seinen verwandt empfinden,
drei Dinge aber würde er als Offenbarungen ver-
ehren: die Lehre Christi, die germanische Natur-
betrachtung und die deutsche Musik.
Hier verläuft eben eine der Grenzlinien, die das
Gebiet des Geistes von freiem Gebieten sondern;
sie ist zart, aber unüberschreitbar. Was vom Her-
aufdämmern des Seelenreiches in Gedanken und
Worten materialisierbar ist, das haben wir gestreift;
Glaubhaftigkeit kann nur im Mitklingen tieferer
Schwingungen gesucht und gefunden werden, dia-
lektische Beweise sind Überredungsmittel. Wollte
man versuchen, eine alte, innere Überzeugung,
eigentlich negativer Art, vom Wesen dieses Reiches,
gedanklich zu übersetzen, so könnte man auf der
Grundlage realistischer Weltanschauung abermals
davon ausgehen, daß von der Geisteseinheit des
Atoms zu derjenigen der Zelle, von der Geistes-
einheit der Zelle zu derjenigen des Menschen, von
der Geisteseinheit des Menschen zu derjenigen der
Gemeinschaft eine immer wachsende und immer
sich verengernde Angliederung stattfindet. Wie
die Summierung zweier Geistesinhalte erfolgt, wis-
sen wir nicht, denn das, was man eigentlich Mecha-
nik des Geistes nennen müßte, ist uns vollkommen»
unbekannt. Wohl aber wissen wir, daß die Sum-
mierung zu einer sehr engen Verbindung führt, ja
HS
daß der unendlich summierte menschliche Geist
sich selbst als eine Einheit empfindet und nur durch
besondere Beobachtung seine Vielfältigkeit entdeckt.
Den nächsten Prozeß der geistigen Summierung,
den des Menschengeistes zur geistigen Gemein-
schaft, aber können wir beobachten; wir können
den Gemeinschaftsgeist einer Ehe, einer Freund-
schaft, eines Stammes und Volkes, ja selbst einer
Versammlung oder Gesellschaft entstehen sehen.
Und hier entdecken wir, daß das eigentlich sum-
mierende Moment nicht in der ursprünglichen
Gleichrichtung, sondern vielmehr in dem Streben
nach Gleichrichtung, nach Zusammenhang und
Verschmelzung, in der Aufhebung der trennenden
Schranken, in der Beseitigung des Individuellen liegt.
Dies summierende Moment wird uns objektiv hier-
durch nicht bekannter, aber wir nehmen wahr, daß
es von innen empfunden* mit dem Mysterium der
Liebe identisch ist.
Folgen wir nun den Analogien mit der Annahme,
daß alle künftige Entwicklung abermals zur Ver-
engung der geistigen Angliederung führen muß,
so kehren wir von der Abstraktion zu der Urwahr-
heit zurück, daß die Aufhebung der individuellen
Willenstäuschung das Reich der Liebe emporführt.
Und dieses Reich der Seele und der Liebe kann tat-
sächlich auch das Reich Gottes genannt werden,
weil es seinen Schwerpunkt vom geistig Individuel-
len in das seelisch Universelle verlegt.
Wiederholen wir nach diesen Erwägungen die
Frage, welche Bedeutung der mechanistischen
Epoche in der Evolution der Menschheit zuzu-
sprechen sei, so bietet sich eine gesetzmäßige Ana-
logie. So wie in der belebten Natur jeder Aufstieg
146
vom niedern zum höher gearteten Organismus
durch große Not erschwerter Lebensbedingungen
erzwungen wurde, so glauben wir zu wissen, daß
die höchsten Menschenrassen ihren Aufstieg gleich-
viel welcher tausendjährigen Lebensschule verdan-
ken. Die Natur aber gab sich mit der Bildung einer
Auslese nicht zufrieden. Die Auserwählten mußten
sich als Herrscher über die niederen Völker ver-
breiten, um sie zu führen, zu erziehen, ihnen neue
Kräfte einzuprägen, schlummernde zu erwecken.
Indem sie diese Aufgabe erfüllten, lösten sie sich
auf, dem Urgesetz gehorchend.
Die neue Not, die nun begann, die Not der Ver-
dichtung, der Mechanisierung und des Intellekt-
tualismus, trägt etwas Größeres, Endgültigeres,
Feierlicheres in sich als ihre Vorläuferinnen. Denn
diese Not entspringt nicht physikalischen und klima-
tischen Umwälzungen; sie ist von der Menschheit
selbst geschaffen, die nunmehr, hinreichend ent-
wickelt, ihrem eigenen Inneren überlassen, mit den
gleichen Mitteln sich Qualen bereitet und Erlösung
sucht.
Vielleicht wird sie gezwungen sein, noch mehr-
mals ähnliche Erziehungen zu vollenden, indem es
ihr obliegt, zurückgebliebene Völker emporzuheben ;
vielleicht soll ihre massenhafte Vermehrung neben-
her dazu dienen, die Kulturaufgaben, denen euro-
päische Kolonialarbeit so hilflos gegenübersteht,
allmählich und ohne Einbuße eigenen Wesens durch
Verschmelzung zu lösen; gleichviel: die Not der
Mechanisierung hat ihre Gegenkräfte bereits er-
zeugt, und wir dürfen somit auch sie als eine der
großen Schulungen der Erdengeschlechter an-
sprechen in der Zuversicht, daß sie in ihrer Einzig-
!••
H7
art das Große emporführen wird, von dem wir ge-
sprochen haben. Ihr Beruf macht sie vergleichbar
mit dem Leben einzelner Menschen, die, mit allen
Kräften des Geistes ausgestattet, suchend ins Weite
streben und schweigend heimkehren, weil sie ihre
Seele gefunden haben, durch Verzicht und Gewinn
doppelt bereichert.
1911
148
MAHNUNG UND WARNUNG
ÜBER ENGLANDS GEGENWÄRTIGE LAGE
Vorbemerkung
Gegenüber der Meinung derjenigen Deut-
schen, die in dem Vereinigten Königreich
einen mäßig bevölkerten Inselstaat und einen
gleichgearteten Mitberater des europäischen Völ-
kervereins erblicken, ist es nützlich, die überragende
Bedeutung dieser Macht, die seit den Zeiten des
Römer- und des Frankenreiches ihresgleichen nicht
gehabt hat, zuv^^eilen ins Gedächtnis zu rufen. Der
dritte Teil der bev^^ohnten Erde steht unter Eng-
lands Botmäßigkeit oder Einfluß; Hunderte von
Millionen Menschen reden seine Sprache und be-
wahren seine Kultur. Seine Flotte findet Stütz-
punkte an allen Küsten; ihre Übermacht vermag
jeden Gegner aus den Meeren zu vertreiben. Eng-
lischen Gebieten entstammen zwei Drittel der Gold-
produktion der Erde; englische Städte sind die Han-
dels- und Marktzentren der Welt. Mit dem Kapi-
talreichtum des Landes kann Deutschland, mit sei-
ner Geldflüssigkeit nur Frankreich sich messen, mit
dem Umfang der auswärtigen tributpflichtigen Un-
ternehmungen kein anderes Volk. Überlieferung,
Gleichförmigkeit der Rasse und Kultur schaffen
den einheitlichsten Volks willen, den wir kennen;
die Abwechslung zweier patriotischer und verant-
wortlicher Regierungsparteien verleiht der Politik
153
die Stetigkeit eines arithmetischen Mittels. Ein
zum Aristokratismus neigender, tätiger und wohl-
habender Mittelstand von ungemeiner Ausdehnung
übt Körper und Geist in harmonischem Ausgleich
und liefert einen Nachwuchs von Menschen, die
Verantwortlichkeit erstreben und ertragen.
Hält man diese Verhältnisse vor Augen, so ergeben
sich diejenigen Einschränkungen, deren die nach-
folgenden Ausführungen bedürfen; denn diese be-
ziehen sich auf Nachteile und Gefahren, denen das
britische Reich gegenwärtig standzuhalten hat.
Da nun die äußere Machtstellung des Landes auf
zwei Grundlagen beruht: dem Erwerbsleben und
der Kolonialmacht, so sollen in gleicher Ordnung
die nachstehenden Beobachtungen vorgetragen
werden.
V
I. Wirtschaftliche Sorgen
om Handel, als der naturgemäßen, herkömm-
lichen und von den gegenwärtigen Verhält-
nissen weniger berührten Quelle englischen Erwer-
bes braucht in diesem Zusammenhange nicht ge-
sprochen zu werden.
Beachtenswerter ist die Lage der englischen In-
dustrie, deren relativen Rückgang ich in meinem
letzten Buche zu beleuchten versuchte. Die Haupt-
ursachen dieses Ermattens im internationalen Wett-
bewerb sind folgende :
I. Lebensgewohnheit und Erziehung. Der Eng-
länder verlangt vom Leben ein höheres Maß von
Muße und Erholung, auch in der Jugend, als der
Deutsche. In der demütigen Tätigkeit des Lernens
überschreitet er daher nicht gern eine gewisse Grenze
154
und verschmäht die gleichzeitig enzyklopädische
und verzweigte Ausbildung des deutschen Studenten.
Somit ist das technisch geschulte Beamtenmaterial
der Engländer dem unsern nicht entfernt zu ver-
gleichen, und keine Vermehrung technischer Lehr-
anstalten wird hieran etwas ändern. Aber auch in
der geschäftlichen Tätigkeit ist der englische Beamte
unterlegen, denn er arbeitet zwei Stunden weniger
als sein deutscher Konkurrent; er verlangt min-
destens einen freien Nachmittag in der Woche, hö-
here Bezahlung und ein klar umschriebenes, von
ungewöhnlichen und komplizierten Wechselfällen
befreites Arbeitsgebiet.
Nun beruhen aber die neueren, vorwiegend wis-
senschaftlich gearteten Industrien, wie etwa Ma-
schinenindustrie, chemische Industrie, Elektrizi-
tätsindustrie, auf zwei Stützen: Technik und Or-
ganisation, das heißt: auf der Tüchtigkeit des
technischen und kaufmännischen Beamten. Hier-
aus erhellt, warum England, bei aller seiner Stärke
in älteren Industriezweigen, insbesondere in den-
jenigen, die Gebrauchswaren liefern, seine starke
Stellung zunächst behauptet, während seine neu-
eren Großindustrien, die vermöge erweiterter Ar-
beitsteilung die fertigmachenden Industrien mit
Produktionsmitteln versorgen, hinter dem Ausland
zurückbleiben.
2. Ein zweites Hemmnis englischer Industrien
sind die Arbeiterorganisationen. Sie mußten die
ganze soziale Versicherungsarbeit übernehmen, die
durch unsere Sozialgesetzgebung verstaatlicht wur-
de, und haben daher eine ungeheure Stärke gewon-
nen. Diese Stärke, verbunden mit einem geschäfts-
mäßig praktischen Sinn, der nicht von Zukunfts-
155
Staaten träumt, sondern heutige Lebensbedingungen
zu beherrschen und anzupassen trachtet — , diese
Stärke hat den Gewerkschaften die Kontrolle der
englischen Industrie gesichert. Sie schreiben vor,
ob und zu welchen Bedingungen gearbeitet werden
darf, ob neue Maschinen eingestellt oder Betriebe
erweitert werden dürfen. Diese Einwirkung hat
den englischen Produktionsbedingungen die Elasti-
zität geraubt, die ausländischer Wettbewerb erfor-
dert. In Einschaltung darf hier bemerkt werden,
daß aus dem Gegensatz der Wert unserer sozialen
Gesetzgebung deutlich hervortritt. Eine Sicherung
des Arbeiters gegen Gefahren und Alterssorgen wäre
zwar sicherlich auch ohne gesetzliches Zutun, auf
Grundlage privater Verbände zustande gekommen;
aber diese Verbände hätten wahrscheinlich unsere
Industrie zugrunde gerichtet. Die Gesamtheit der
Industriellen hat daher keinen Anlaß, sich über die
Belastungen dieser Gesetzgebung zu beklagen.
3. Überlieferung und Konservatismus, zwei Fak-
toren höchster Stärke, wo es sich um Regierungs-
und Verwaltungsfragen liandelt, sind der industriel-
len Entwicklung entgegengesetzt. Vornehmlich ist
es die Fähigkeit der Amerikaner, in letzter Zeit siuth.
einigermaßen der Deutschen, erhebliche Risiken
und Ausgaben auf sich zu nehmen, um Betriebe
zu verbessern, neue Arbeitsmethoden und neue Er-
zeugnisse einzuführen, neue Unternehmungen und
Industriezweige zu schaffen. Der Engländer hin-
gegen hat jahrzehntelang mit seinen älteren In-
dustrien Glück gehabt, ja eine führende Stellung
behauptet, ohne sich Sorgen um Geldbeschaffung
oder wirtschaftliche Experimente machen zu müs-
sen; so steht» er Neuerungen unwillig und miß-
156
trauisch gegenüber, beauftragt allenfalls einen ge-
werbsmäßigen Sachverständigen — denn über eigene
maßgebliche Kräfte verfügt er nicht — , ihm Gut-
achten und Berechnungen vorzulegen, und ent-
scheidet sich erst dann für die Reform, wenn die
Welt längst mit neuen Dingen beschäftigt ist. Auch
dies fördert den industriellen Konservativismus, daß
die Unternehmungen großenteils in den Händen
Privater liegen, die nach altem Herkommen nicht
gern an die Grenze ihrer Mittel herantreten, noch
weniger aber Kredite zu beanspruchen wünschen,
während unsere Aktiengesellschaften unter Mithilfe
industriell veranlagter Banken sich ohne Bedenken
und Schwierigkeit Anleihen oder Kapitaleinlagen be-
schaffen.
Versucht man, die drei Kategorien, die den ver-
zögerten Fortschritt oder vergleichsweisen Rück-
gang englischer Industrie verschulden, auf ein
Grundprinzip zurückzuführen, so wäre man geneigt
anzunehmen, daß alter Reichtum, alte Kultur und
alte Führerschaft England ungeeignet machen, die
unterwürfigen Qualitäten des übertriebenen Ler-
nens, der Vielgeschäftigkeit und der Konkurrenz-
gebarung anzunehmen, die modernes Erwerbsleben
leider erfordert. England leidet unter seinen besten
Eigenschaften.
Die Engländer selbst sind sich des Vorgangs deut-
lich bewußt, seiner Ursachen nicht. In erster
Linie glauben sie, daß das System der technischen
Erziehung reformiert werden müsse, während es
sich in Wirklichkeit um Fragen der nationalen Le-
bensweise handelt. In zweiter Linie regt sich in allen
Ecken des Landes die Neigung zu Schutzzöllen, de-
nen ja vielfach die Kraft zugesprochen wird, er-
^S7
schlaffende Industrien zu halten, während sie in
Wirklichkeit nur imstande sind, junge und aufstre-
bende Gewerbe in ihrer ersten Entwickelungszeit
zu schützen und zu stärken.
Aus Besprechungen mit führenden Finanzleuten
ergab sich nun die seltsame Tatsache, daß der Ruf
nach Gewerbeschutz einstweilen durchaus nicht
vorwiegend von Industriellen oder Arbeitern aus-
geht. Diese beiden Berufsklassen vertreten viel-
mehr großenteils die nur innerhalb enger Grenzen
zutreffende Ansicht, daß Schutzzölle die Verbrauchs-
güter des Landes verteuern, woraus die einen schlie-
ßen, daß die Löhne erheblich gesteigert werden
würden, während die andern selbst bei gesteigerten
Löhnen verschlechterte Lebensbedingungen be-
fürchten. Danach macht sich wohl auf selten der
Händler und Cityleute die Erkenntnis geltend, daß
ein schutzzöUnerisches England auf die Dauer nicht
den Großhandel und die Hauptmärkte des Kon-
tinents sich werde erhalten können, daß vielmehr
diese Hauptquellen des nationalen Erwerbes vor-
wiegend von deutschen Häfen und Handelsplätzen
abgefangen werden würden. Tatsächlich sieht Eng-
land in dieser wichtigsten aller gegenwärtigen Wirt-
schaftsfragen sich vor die Wahl gestellt: entweder
in gleicher Weise die fernere Entwicklung seiner
Industrie seinem Handel und seiner Weltstellung
zu opfern, wie es seine Landwirtschaft in der Mitte
des XIX. Jahrhunderts geopfert hat, oder mit dem
mangelhaften Hilfsmittel der Schutzzölle die In-
dustrie zu verteidigen, auf die Gefahr hin, daß Han-
del und Handelsflotte, Warenverkehr, Geldverkehr
und Märkte ernsthaft geschädigt werden.
In dieser schweren Besorgnis sind es, wie erwähnt,
158
merkwürdigerweise nicht so sehr die eigentlich be-
troffenen Industriellen, -die Schutz fordern, als eine
andere Klasse von Interessenten, die sich gleichfalls,
aber auf gänzlich andersgeartetem Gebiete, in Be-
drängnis fühlen — nämlich die Imperialisten.
IL Koloniale Sorgen
Es bezeichnet die seltsame Doppelheit englischer
Politik, die nicht wie die unsre durch unüber-
brückbare wirtschaftliche Gegensätze in Spannung
gehalten wird, sondern nach Gelegenheitsgründen
bald hier bald dort ein altes Prinzip verläßt, ein
neues aufnimmt — , es bezeichnet diese Wendigkeit
und Unbefangenheit, daß der Mann, der seiner
Königin die Kaiserkrone von Indien aufs Haupt
setzte, das Wort gesprochen haben soll: die Kolo-
nien seien der Mühlstein an Englands Halse.
Die politischen Erben Disraelis, die heute im-
perialistische Ziele verfolgen, werden sich dieses
gewichtigen Bildes bewußt, deutlicher als es dem
kontinentalen Blick sich darstellt.
Denn wenn wir, von gewohnten Anschauungen
ausgehend, die englische Weltstellung auf Seemanns-
tüchtigkeit und Kolonialherrschaft zurückführen,
so erblicken wir in der letzteren nicht nur den Inbe-
griff maritimer Stützpunkte und überseeischer
Bundesgenossenschaften, sondern vor allem den
Quell unversieglicher Schätze, die als Tribute, Ge-
hälter, Pensionen, Handels- und Absatzgewinne
dem. Mutterlande zufließen. Diese wirtschaftliche
Seite des kolonialen Imperiums verdient indessen
eine etwas nüchternere Betrachtung.
Es wird kaum möglich sein, und wohl auch von
.. ' 159
keiner Stelle der Verwaltung aus ernstlich versucht
werden, die wirtschaftliche Bilanz des kolonialen
Soll und Haben zahlenmäßig zu ziehen. Sowohl
unter den Aktiven wie unter den Passiven würden
Posten erscheinen, die sich jeder Berechnung ent-
ziehen: unter den ersteren der Wert des Handels-
verkehrs, unter den letzteren die Erfordernisse für
solche Anlagen, die sich spät, indirekt oder nie be-
zahlt machen, sowie für maritimen Schutz und krie-
gerische Unternehmungen. Indessen läßt sich aus
einer Reihe übereinstimmender Zeichen schließen,
daß diese Bilanz heute in hohem Maße passiv ist.
Was zunächst zahlenmäßige Überweisungen aus den
Kolonien anlangt, so finden solche in irgendwie
beachtenswertem Maße überhaupt nicht statt.
Die Kolonien halten und bezahlen ihren eigenen
Beamtenkörper, der aus einsässigen Persönlichkeiten
besteht; das Militär, soweit es überhaupt von der
Heimat gestellt wird, erhält und verzehrt seine
Löhnung in dem Lande, wo es angesetzt ist; Kon-
tributionen werden an das Mutterland nicht ent-
richtet. Dagegen verlangen viele Kolonien erheb-
liche direkte Zuschüsse aus der Heimat; sie verlangen
die Finanzierung ihrer Anleihen, gleichviel ob diese
zureichend, oder wie etwa die von Kapland, sehr
mäßig fundiert sind ; sie verlangen endlich gewaltige
Geldmittel für Verkehrsanlagen, Bewässerung, Be-
festigung, Kriegführung, die entweder vorschuß-
weise oder als verlorene Zuschüsse gewährt werden
müssen. Daß der englische Handel aus den Kolonien
erhebliche Vorteile zieht, ist unbestreitbar, und es
fällt hiergegen nur wenig ins Gewicht, daß beträcht-
liche Unterstützungen an Dampferlinien gezahlt
werden müssen. Auch englische Erzeugnisse finden
i6o
in den Kolonien Absatz: bis zu welchem Maße, ist
schwer zu sagen, obgleich die Handelsstatistiken
die Einfuhrziffern mit über 50 Prozent der Gesamt-
einfuhr nachweisen; denn zweifellos finden viele
deutsche und amerikanische Produkte auf dem Um-
weg über England dort — eine zweite Heimat. So
viel aber ist sicher, daß der koloniale Absatz keine
Schätze abwirft; denn trotz mannigfacher Bevor-
zugung wirkt der internationale Wettkampf in den
Kolonialgebieten mit rücksichtsloser Schärfe.
Als wahrscheinlich darf angenommen werden,
daß die wirtschaftlichen Vorteile, die England aus
seinen Kolonien zieht, sich in einem Verhältnis ab-
stufen, das bei sehr zahlreicher und tätiger farbiger
Bevölkerung seinen günstigsten Grad erreicht, wäh-
rend die überwiegend von europäischen Rassen be-
siedelten Länder der Heimat mehr und mehr national
und wirtschaftlich verloren gehen; es dürfte daher
Indien noch immer Englands wertvollster Besitz
sein. Erscheinen somit die wirtschaftlichen Vorteile,
die England der kolonialen Ausdehnung verdankt,
begrenzt, so muß aus der politischen Betrachtung sich
ergeben, welches Maß vernünftiger Berechtigung,
mithin von Stabilität, dem Imperium innewohnt.
Auch hier ergibt sich eine ähnliche Gesetzmäßigkeit
insofern, als die Dichte und Bedeutung der weißen
Bevölkerung in einer gewissen Proportionalität stehen
zu den Sorgen, die der Heimat erwachsen.
Abermals zeigen die Kolonien mit dichter und
vergleichsweise entwickelter farbiger Bevölkerung
das günstigste Bild. Sie erweisen sich als gesicherter
Staatsbesitz, dessen innere und äußere Verteidigung
zwar aufmerksame Überwachung erfordert, der auch
gelegentlich bei Wirtschaftskalamitäten durch Auf-
I. " » 161
stände gefährdet werden kann, im allgemeinen aber,
mit der Länge der Zeit, mit dem Ausbau von Ver-
kehrs- und Verteidigungsmitteln dem Stammland
immer enger angekettet wird.
Anders diejenigen Kolonien, die wie Südafrika
infolge der Spärliclikeit oder Passivität der einge-
borenen Bevölkerung eine gleichzeitige Besiedelung
durch farbige und weiße Elemente erfordern. Über-
wiegt hier das dunkle Element, wie dies zumal bei
beginnender Kolonisation entschieden der Fall sein
muß, so entsteht innerhalb weniger Generationen
eine moralische, vielleicht auch physische Nieder-
ziehung des Europäertums. Das beständige Beispiel
des untätigen und amoralischen Eingeborenen, die
schwer zu ertragende Gewöhnung an ein angebore-
nes Herrscherdasein, die Erziehung der Kinder in
der Umgebung und Atmosphäre einer unterwürfigen
Kaste — diese Faktoren scheinen zu einer inneren
Entartung beizutragen, die zu weitgreifender Ver-
mischung und Bastardisierung führen kann. So ist
im Kapland der Stamm der Capboys entstanden,
eine Mischlingszucht von Holländern und Negern,
die in allen Abstufungen von Weiß zu Schwarz heute
einen wesentlichen Bestandteil der südafrikanischen
Bevölkerung bildet. Schreitet nun die Vermehrung
der Eingeborenen und Mischlinge rascher voran als
die der Europäer, so entstehen neue Wirrnisse. Denn
auch die Farbigen haben im Zusammenleben mit
den Weißen sich so weit gewandelt, daß sie ge-
lernt haben, Ansprüche zu erheben; zunächst auf
Teilnahme an der Verwaltung. Dr. Jameson, der
Führer jenes berüchtigten Zuges gegen Johannes-
burg, der bis vor kurzem dem Kapministerium ange-
hörte, vertritt mit Entschiedenheit die Berechtigung
162
der Farbigen zur Selbstverwaltung, indem er an-
führt, daß eine scharfe Grenze zwischen ihnen und
den Weißen physisch überhaupt nicht mehr gezogen
werden könne. So besitzen denn im Kapland die
Farbigen tatsächlich das parlamentarische Stimm-
recht, während andere Kolonien, wie z. B. Natal,
wo das weiße Element vorherrscht, auf diesen Ver-
fassungszustand des Nachbarlandes mit Abscheu
hinabsehen und vornehmlich um seinetwillen von
der Errichtung einer südafrikanischen Union nichts
wissen wollen.
Es ist bekannt, daß die Strebungen der oberfläch-
lich zivilisierten Eingeborenen sich noch weiter er-
strecken, daß die äthiopische Bewegung, durch
schwarze Missionare geschürt, Anhänger wirbt für
die der Monroedoktrin nachgebildete These: „Af-
rika den Afrikanern". So sind denn heute ernste
englische Beurteiler der Ansicht, daß das Land in
absehbarer Zukunft zu wählen haben werde zwischen
friedlicher Unterwerfung unter teilweise afrikanische
Kontrolle oder schweren inneren Kämpfen. Mag
dieser Hinblick zu dunkel erscheinen : so viel ist ge-
wiß, daß nur eine Stärkung des hellen Elements,
somit eine energische Förderung der Einwanderung
und allmähliche Umwandlung der Länder in weiße
Kolonien die inneren Reibungen beseitigen und
die Verschmelzung der verschiedenartigen Verwal-
tungen zu einer einheitlichen südafrikanischen Ko-
lonialorganisation ermöglichen wird. In gleichem
Maße aber werden diejenigen neuen Gegenstrebun-
gen dem Mutterlande gegenüber auftreten, die von
allen weißen und zu einer gewissen Reife gelangten
Kolonien gezeitigt werden, und die eine wirkliche
Gefahr für das koloniale Imperium bilden.
n*
163
Betrachtet man vergleichend die Vereinigten
Staaten und Kanada, so erblickt man zwei Länder
von nahezu gleichaltriger Geschichte und ähnlicher
Flächenausdehnung, aber von sehr verschiedener
Bedeutung. Das eine, stark bevölkert, eine politisch
führende, wirtschaftlich unerreichte - Macht von
ungeheurem Wohlstand, das andere spärlich be-
wohnt, politisch ohne Existenz, verwaltungsmäßig
abhängig, zwar mit zunehmendem Wohlstand, doch
ohne überragende wirtschaftliche Bedeutung. So
kann es nicht wundernehmen, daß die Bewohner es
ablehnen, Klima und Boden allein für die verzögerte
Entwicklung verantwortlich zu machen, sondern
vielmehr in der Abhängigkeit von einem europä-
ischen Lande den schwersten Nachteil erblicken.
Diese Stimmungen finden offen Ausdruck; eine
peinliche Szene auf einem Bankett in Washington
gab vor wenigen Wochen die kennzeichnende Abbil-
dung kanadischer Unabhängigkeitsgelüste.
England ist sich dieser zentrifugalen Tendenzen
bewußt und bemüht sich, durch Freisinn, der fast
an Schlaffheit grenzt, ihnen zuvorzukommen. Man
kann in der Dezentralisation nicht weiter gehen, als
hier geschieht. Selbst halbentwickelte Kolonialge-
bilde haben eigene Parlamente, eigene Gesetzgebung,
Wirtschaftspolitik, Beamtenkörper. England und
seinem Statthalter bleibt kaum etwas anderes als
Veto und Exekutive. Aber alle Liberalität kann den
Gedanken nicht zurückdrängen, der in allen weißen
Kolonien auftaucht und Boden gewinnt : daß in sehr
absehbarer Zeit an die Stelle des Vormundschafts-
verhältnisses eine Union zu treten habe, die denn
freilich in der Praxis andere Wege einschlagen könnte,
als es den Programmen entspricht.
164
Was England heute den loslösenden Bestrebungen
allein entgegensetzen kann, ist seine Flotte. „Hier
habt ihr einen Schutz," so sagt Großbritannien,
„den keiner von euch entbehren und den kein andres
Land euch gewähren kann, denn die britische Flotte
ist ein unerreichbares, jeder Nebenbuhlerschaft ent-
hobenes Einzigtum." Auf diesem Nachsatz liegt
das Gewicht. Denn er bezeichnet den Untergrund
der englischen Flottenernpfindlichkeit : mit jedem
Schiff, das Deutschland baut, lockert sich ein Stein
des britischen Kolonialgebäudes.
So ist es begreiflich, daß die imperialistische Partei
sich nach neuen Mitteln umsieht, um die übersee-
ischen Besitzungen sich fester zu verbinden; und
es trifft sich seltsam, daß abermals der Gedanke des
Schutzzollsystems sich darbietet. Hier aber er-
scheint er, den veränderten Zielen entsprechend,
in neuem Kleide. Ein gemeinschaftlicher Zollring,
der nicht nur auf die Produkte der Industrie, son-
dern auch der Landwirtschaft und der kolonialen
Wirtschaft sich erstreckt, soll das gesamte britische
Weltreich umschließen und eine gewaltige Pro-
duktionseinheit schaffen. Unter seinem Schutz
sollen die Überseeländer das Heimatreich mit
Rohstoffen, Nahrungs- und Genußmitteln ver-
sorgen und im Austausch Industrieprodukte er-
halten.
Die Schwächen dieses gewaltigen Gedankens lie-
gen offen zutage : er ist für beide Parteien unannehm-
bar. Abgesehen von der Frage, ob die Gemeinschaft
in ihrer Produktion vielseitig und hinlänglich genug
sein würde, um sich von der Umwelt genügend frei-
zumachen: die Kolonien würden es auf die Dauer
nicht ertragen, englische Erzeugnisse unter mono-
i6s
polistischen Bedingungen zu beziehen ; und England,
das keine erliebliclie Landwirtschaft betreibt und
sich noch heute vor lediglich industriellen Zöllen
fürchtet, weil sie die Lebensführung verteuern, wür-
de die Einbeziehung des Gesamtbereichs aller Kon-
summittel in die umfassende Zolleinheit sich nicht
gefallen lassen. Die gewichtigen, im Vorangegan-
genen erwähnten Bedenken hinsichtlich Gefährdung
des Handels und der Märkte bleiben überdies in ver-
stärktem Maße geltend.
Von großer Bedeutung muß es aber erscheinen,
daß von zwei ganz verschiedenen Seiten aus auf das
gleiche Ziel hingearbeitet wird, wobei die Kolonial-
partei mit großen Mitteln der Wühlerei und hohen
Parolen sich bereits in Tätigkeit befindet, während
die nach herkömmlichen ökonomischen Anschau-
ungen vornehmlich interessierten Gruppen, näm-
lich die der Industrie, einstweilen noch zögern, aus
der Deckung hervorzutreten und sich den Bundes-
genossen zu vereinigen.
Als außenstehende Beurteiler können wir die eng-
lische Schutzzolltendenz nur als verkehrt betrachten,
als industrielle Interessenten sie als schädlich emp-
finden; es stehen uns aber keine Mittel zu Gebote,
sie abzulenken. Und wenn man auch im allgemeinen
die englische Politik als vorbildlich insofern be-
zeichnen darf, als sie stets, gleichsam instinktiv,
die wahren Bedürfnisse der Nation erfaßt und
besorgt hat, so ist der Fall doch nicht auszu-
schließen, daß in Zeiten der Verlegenheit starke
Konstellationen vermeintlicher Interessen die Ent-
schlüsse bestimmen.
i66
Rückwirkungen
So sehen wir England Keute von zwei schweren
Sorgen erfüllt: der wirtschaftlichen und der
kolonialen, denen zwei Mittel der Abhilfe gegen-
überstehen ; das eine — Schutzzoll — grundsätzlich
durchaus durchführbar, aber vermutlich nicht heil-
sam; das andere — Flottenvermehrung — zweck-
entsprechend und geeignet, vielleicht aber nicht
so bequem durchführbar, wie es auf den ersten
Blick erscheint. Zwar ist die englische Flotte außer-
ordentlich volkstümlich, der höchste Stolz der Na-
tion; ihre Besatzung findet in der maritimen Be-
völkerung reichlichen Nachwuchs; der Schiffbau
ist unübertroffen; die Mittel zur Erhaltung und
Verstärkung sind stets aufs freigebigste vom Par-
lament bewilligt worden — aber das Land ist heute
nicht mehr so ausgabefroh wie früher, und opferwil-
lig ist es nie gewesen. Wenn auch die Staatsbilanz
mit einer Schuldentilgung von i8 Millionen glän-
zend erscheint, so ist der Überschuß doch nur eine
Folge der Kriegssteuer, die noch immer gezahlt und
ungern gezahlt wird. England könnte bei seinem
großen nationalen Wohlstand ein erheblich ver-
größertes Haushaltsoll ertragen; es will aber nicht
höher besteuert sein, ebensowenig wie es die Last
einer allgemeinen Wehrpflicht zu tragen gewillt ist.
Dies verwöhnte Land macht seit Jahren schlechte
Geschäfte und lebt nach unsern Begriffen über seine
Verhältnisse : da sind neue Steuern die unliebsamste
Ausgabe. So mußte auch die Heeresreform ein
Stückwerk bleiben; sowohl die Einrichtung der
Territorialarmee als die der Military Associations,
die einen Teil der Lasten zu freiwilligen machen
167
sollen, scheinen Mißerfolge. Wenn daher auch häu-
fig das Wort ertönt : „auf ein deutsches Schiff zwei
englische", so äußert sich darin mehr ein Wunsch
als ein Gelübde. Zweifellos kann England seine
Flotte verstärken, wird sie verstärken und muß sie
verstärken — aber das gegenwärtige maßlose Ver-
hältnis der Übermacht kann auf die Dauer nicht er-
halten bleiben.
In hohem Maße beachtenswert ist es, daß beide
Sorgen, die industrielle und die koloniale, den Blick
der Nation nach Deutschland hinüberlenken. Hier
sitzt der Konkurrent und der Rivale. Aus allen Un-
terhaltungen mit gebildeten Engländern klingt es
heraus, bald als Kompliment, bald als Vorwurf,
bald als Ironie : ihr werdet uns überflügeln, ihr habt
uns überflügelt. Und ein drittes gewichtiges
Moment tritt hinzu, das wir uns in der
Heimat nicht immer vergegenwärtigen:
die Beurteilung Deutschlands, wie es
sich dem Außenstehenden darstellt.' Man
blickt von außerhalb in den Völkerkessel
des Kontinents und gewahrt, von stok-
kenden Nationen eingeschlossen, ein Vo 1 k
von rastloser Tätigkeit und enormer phy-
sischerAusdehnungskraft. Achthundert-
tausend neue Deutsche jährlich! Jedes
Jahrfünft eine zusätzliche Bevölkerung
nahezu gleich der von Skandinavien oder
der Schweiz! Und man fragt sich, wie
lange das blutarme Frankreich dem
Atmosphärendruck dieser Bevölkerung
standhalten könne.
So verkörpert und verörtlicht sich jede
englische Unzufriedenheit — und es gibt
j68
deren genug seit dem letzten Kriege — im
Begriffe Deutschland. Und was bei den Ge-
bildeten als erwogeneÜberzeugungauftritt,
das äußert sich beim Volke, bei der Jugend,
in der Provinz als Vorurteil, als Haß und
Phantasterei in einem Umfange, der weit
über das Maß unsrer journalistischen Wahr-
nehmungsfähigkeit hinausgeht.
Es wäre schwächlich und oberflächlich,
wollte man glauben, daß kleine Freund-
lichkeiten, Deputationsbesuche oder Preß-
manöver Unzufriedenheiten stillen können,
die aus so tiefen Quellen fließen. Nurunsre
Gesamtpolitik ist imstande, England wenig-
stensdiesenEindruck zu verschaffen, daß von
Deutschlands Seite aus keine Verstimmung,
keine Furcht, kein Expansionsbedürfnis und
keine Offensive besteht. Die Massen werden
hierdurch nicht überzeugt, wohl aber die
Regierungen im Bewußtsein ihrer Verant-
wortung erhalten werden.
Ist es zutreffend, daß seit dem Aufhören
der Eroberungskriege es vorwiegend ratlose
Verlegenheiten gewesen sind, die europä-
ische Konflikte veranlaßt haben, so ergibt
sich von neuem der Anlaß, nichts zu versäu-
men, was zu r politischen Beruhigung beitra-
gen kann; in demBewußtsein, daß mit jedem
Jahr, das vergeht, das maritime Machtver-
hältnis sich für uns günstiger gestaltet und
hierdurch eine allmähliche Bekräftigung
des Gleichgewichtes wiederum eintritt.
Diese Arbeit wurde während eines längeren Aufenthalts in englischen Territorien im
Sommer 1908 geschrieben und als Denkschrift dem damaligen Reichskanzler überreicht,
169
POLITIK, HUMOR UND ABRÜSTUNG
Manto
Den lieb' ich, der Unmögliches begehrt.
I.
Im Schachspiel wird derjenige siegen, dem der
stärkste Gegenzug zur Verfügung steht. Der
stärkste Gegenzug abei ist dadurch gekennzeichnet,
daß er nicht nur Absicht und Angriffsplan des Geg-
ners durchkreuzt, sondern gleichzeitig dem eignen
Spiel neue Aussichten und Stärken schafft.
Eine dauernd defensive Staats- oder Geschäfts-
politik muß Schaden leiden. Ein tüchtiger Ge-
schäftsmann weiß, daß jeder Tag neue Schwierig-
keiten und Mißhelligkeiten bringt, während uner-
wartete Glücksfälle selten eintreten. Die Wirrnisse
zu ordnen, die Unbequemlichkeiten zu beseitigen,
genügt nicht: es müssen beständig neue Netze aus-
geworfen werden, damit von hundert Losen eines
gewinnt. Bei gleicher Einsicht und gleichem Fleiß
wird von zwei Geschäftsleuten derjenige der erfolg-
reichere sein, der die meisten Eisen im Feuer hat.
Wer sich darauf beschränkt, die Widernisse des Tages
auszugleichen und Welle für Welle ruhig abzuwarten,
den trifft zuletzt eine, die ihn niederwirft.
Hierin sind Staatsgeschäfte und Privatgeschäfte
gleichzusetzen. Der Kaufmann fragt sich, wenn man
ihm von Erfindungen oder Unfällen, von Ernten
oder Gesetzesvorlagen erzählt : was kann ich darauf-
hin machen ? und kauft oder verkauft, kündigt, leiht
oder treibt ein, je nach seiner Meinung. Als man
Bismarck die Nachricht vom zweiten Attentat
brachte, fragte und klagte er nicht, sondern sagte
bloß: jetzt haben wir sie! und meinte damit, über
drei Gedankenschlüsse hinweg, den Zusammenbruch
des Liberalismus. Das war vollkommene Genialität
und Realpolitik: Genialität, weil im Handumdrehen
173
ein furchtbares und widerwärtiges Ereignis in das
stärkste Trieb mittel des eignen Willens verwandelt
wurde; Realpolitik nicht nur im herkömmlichen
Sinne der illusionsfreien Zweckfolge, sondern vor
allem in dem Respekt vor der Realität der entschie-
denen Tatsache und der gegebenen Lage. Jede neue
Tatsache macht in der Welt unzählige Aussichten
zunichte ; sie erweckt aber auch unzählige neue zum
Leben. Deshalb muß jede Tatsache in doppeltem
Sinne geprüft werden: wie weit sie sich mit den
früheren Absichten verträgt und wie weit sie neue
Absichten zuläßt.
Was bedeutet überhaupt geschäftliche oder po-
litische Genialität ? Mir scheint, nichts andres,
als daß in der Camera obscura des Geistes sich ein
Weltbild darstellt, das alle wesentlichen Zusammen-
hänge und Gesetzmäßigkeiten der Wirklichkeit un-
bewußt wiedergibt, und das daher auch gewisser-
maßen experimentell sich jederzeit verschieben läßt,
so daß es innerhalb menschlicher Grenzen sogar das
Bild der Zukunft aufweist. Dieser Vorgang der
Weltbildung ist intuitiv und daher mühelos; er ist
zwar an ein vorhandenes Erfahrungsmaterial gegen-
wärtiger und vergangener Tatsachen gebunden und
läßt sich durch Nachforschungen und Erhebungen
ergänzen; aber er läßt sich nicht erzwingen. Nach
außen wird daher politische Genialität erkennbar
sein einerseits als Kraftüberschuß, Freiheit und
somit als Humor im Sinne jener Bism.arckschen Re-
gung (wenn unter dem Begriff des Humors die Sou-
veränität gegenüber der Erscheinung verstanden
werden darf) ; anderseits als zukunf twärts gewandter
Blick, als Phantasie. Sicherlich muß hier Freiheit
nicht mit Frivolität, Phantasie nicht mit Phantastik
174
verwechselt werden ; Frivolität ist unsittlich, Phan-
tastik irreal.
Politische Genialität aber wird nicht nur im Re-
alen, sondern auch im letzten Sinne im Ethischen
wurzeln : denn ihr Weltbild wäre nicht vollkommen,
wenn es nicht auch den immanenten sittlichen Ge-
setzen Raum schaffte. Freilich wird diese Sittlich-
keit sich nicht darin äußern, daß man jeder prak-
tischen Frage gewaltsam eine moralische Seite ab-
zwingt, wodurch denn gemeinhin aus einem Gebiete
möglichen Iirens zwei gemacht werden.
Ein allzu sorgenvoller Kaufmann wird wenig
Kredit erhalten, denn er läßt befürchten, daß seine
Lebenskraft dem Gewichte der Widrigkeiten er-
liegt, und daß es ihm an Hilfsquellen fehlt. Wer
Schwierigkeiten sucht, der wird wohl noch mehr
finden, als er erwartet. Wer in allen kleinen Dingen
eine ethische Seite sucht, setzt sich der Gefahr aus,
in großen Dingen unethisch zu handeln. W^er jede
neue Tatsache als einen Quell von Mühen und Un-
zuträglichkeiten betrachtet, wird sich über Mangel
an Gelegenheiten beklagen.
Die beste Stimmung des Geschäftsmannes ist,
wenn er sich sagt: es gibt keine Not, aus der sich
nicht eine Tugend machen ließe.
IL
Die Bismarcksche Epoche hat uns in einem allzu
saturierten Zustand hinterlassen. Deutsch-
land glich einem Kaufmann, dem man für sein Ge-
schäft viel Geld herausgezahlt hat, und den nun
die Sorge, nichts zu verlieren, von neuen Unter-
nehmungen abhält. Nachdem man bis 1870 ein
17s
ärmliches, etwas abenteuerhaftes, aber hoffnungs-
volles Leben geführt hatte, erwachte man als wohl-
habender, gesättigter Bourgeois; freilich in unbe-
queme Grenzen eingeschlossen, die man vollkom-
men ausfüllte und von nun an verteidigen sollte,
und inmitten ähnlich gefestigter Existenzen, die
die ihrigen verteidigten. Die Zeit der Expansion
war vorüber, die geographische Lage beklemmt.
Nun beging man einen unbegreiflichen Fehler, dessen
Gleichnis zu suchen man weit in der Geschichte
hinaufsteigen müßte: man gestattete der Volksstim-
me eines Nachbarn, in jeder unbeschäftigten Stunde
Racheschwüre auszustoßen, und gewöhnte sich in
mißverstandener Höflichkeit daran, diesen merk-
würdigen Zustand einseitiger Bedrohung als eine
berechtigte Eigenart aufzufassen, bis er den Charak-
ter eines allgemein gebilligten Gewohnheitsrechtes
erhielt, das heute als eine der stärksten Wirklichkei-
ten der Weltpolitik einen Teil unsrer Handlungs-
fähigkeit lahmlegt.
f Seit Bismarcks Abgang ist die deutsche Politik
defensiv geblieben. Wir haben nicht ein einziges
eigenes Aktivgeschäft abgeschlossen, und, was be-
denklicher ist, nicht einmial eine größere aktive Auf-
gabe für unsre Politik gefunden. Den zahllosen Be-
teuerungen unsrer Friedensliebe hätten wir die
beweiskräftige Formel hinzufügen können: weil
wir nicht wissen, was wir uns wünschen sollen. Der
größte Erfolg unsrer neueren Politik war dem letzten
Amtsjahre des Fürsten Bülow beschieden : er be-
stand in dem Turnier für Österreich gegen Rußland
und betraf unsre Interessen somit nur mittelbar.
Inzwischen dient uns die der Finanz, nicht der Po-
litik entsprossene Bagdadbahn in freudvollen und
176
leidvollen Tagen als fröhlicher, wenn auch einsamer
Wetterfrosch.
Dankbar wurde es begrüßt, daß der fünfte Kanz-
ler in seiner großen Rede über die Abrüstungsfrage
das liberum arbitrium Deutschlands in weltgeschicht-
lichen Dingen emporhob. Er verschaffte dem un-
ausgesprochenen Gedanken Geltung, daß zu einer
Zeit, in der das Gleichgewicht der Nationen noch
nicht endgültig stabilisiert sei, Krieg und Frieden
nicht in die Hände von Kommissionen gehöre.
Um so mehr wird der erste Teil der Rede, die Be-
handlung der Abrüstungsfrage, die man besser eine
Kontingentierungsfrage nennen sollte, Enttäuschung
erweckt haben, denn hier konnte man glauben, die
freudlose Ablehnung einer unzeitigen Belästigung
zu vernehmen, und sich somit in eine mißgestimmte
Defensive zurückversetzt fühlen, wo vielleicht ein
guter Einfall oder wenigstens eine hoffnungsvolle
Mitwirkung uns und der Welt einen Dienst erwei-
sen konnte.
Denn abgesehen davon, daß das ungewöhnliche
Interesse, das die Nationen der Frage entgegen-
bringen, ganz unabhängig von ihrem Inhalt, an
sich eine Realität bedeutet, die zugreifende Auf-
merksamkeit verdient: in der Kontingentierungs-
idee selbst liegt ein gesunder und keimkräftiger
Kern.
Der Umfang der Rolle, die ein Staat auf dem
Welttheater zu spielen berechtigt ist, bestimmt sich
zu jeder Zeit durch eine Reihe von Gegebenheiten
geographischer, physischer und moralischer Ord-
nung. Vorübergehend kann die tatsächliche Macht-
sphäre die Grenze der natürlichen Berechtigung
überschreiten oder unausgefüllt lassen; auf die
X, xa
177
Dauer wird Macht und Machtberechtigung, Aus-
dehnung und Ausdehnungsberechtigung sich die
Wage halten. Mit 65 Millionen Einwohnern, star-
kem Landheer, leidlicher Flotte, bedeutendem Ein-
kommen, hohem Stande der Zivilisation, des tech-
nischen Könnens und der ethischen Werte darf
Deutschland territoriale und potentielle Ansprüche
gegebenen Umfangs stellen; mit jeder Verschiebung
eines dieser Faktoren ändert sich das Maß der Be-
rechtigung, wenn auch die historische Gestaltung nur
in Zeiträumen den Änderungen zu folgen vermag.
Der Gesamtzustand der Wehrfähigkeit sollte,
wenn möglich, ein genaues Abbild des inneren
Machtbegriffes darstellen. Die Zahlen der Land-
und Seeheere müssen zur Bevölkerungszahl, ihre
Kampfmittel zum Volkswohlstand und zum Stande
der Technik, ihre Ausbildung und Tüchtigkeit zur
Zivilisation und Ethik im Verhältnis des Abbildes
zur Wirklichkeit stehen. Freilich liegt in diesem
Verhältnis ein subjektiver Faktor, den ich den An-
spannungsfaktor nennen möchte; denn tatsächlich
kann ein vergleichsweise schwacher Staat seine
Kräfte eine Zeitlang über jedes verständige Maß
hinaus anspannen und sich einen Verteidigungszu-
stand schaffen, der seine Verhältnisse übersteigt,
während ein starker Staat, wie z. B. Nordamerika,
im Vertrauen auf seine geographische Lage seine
Kampfmittel in einer für europäische Begriffe un-
gewöhnlichen Schonung zu erhalten vermag.
Der Anspannungsfaktor kann somit an sich ver-
schieden sein; indessen ist es keine Frage, daß der
zügellose Wettbewerb der Nationen die Wirkung
haben muß, alle Anspannungsfaktoren dauernd zu
steigern und somit möglicherweise über lang oder
17B i
kurz sie für den einen, den andern oder alle unerträg-
lich zu machen.
Es ist sicher schwierig, aber durchaus nicht hoff-
nungslos, Mittel zu finden, um auf dem Wege der
Kontingentierung die kriegerische Anspannung aus-
zugleichen und in erträglichen Grenzen zu halten,
und in diesem Sinne ist der Gedanke der Abrüstung
keine leere Utopie, sondern eine moderne und brauch-
bare Idee von entschiedener Tragweite. Gern gebe
ich zu, daß möglicherweise die englischen Anreger
ihren Vorschlag anders verstanden haben. Vielleicht
wollten sie gar nicht Wehrkraft und innere Macht
in ein dauerndes gesundes Verhältnis bringen, son-
dern im Gegenteil die heutige internationale Kräfte-
verteilung verewigen und jedem einen Rock schnei-
dern, der mit der Zeit entweder zu eng oder zu weit
werden muß; sie haben sich ja nicht allzu deutlich
ausgesprochen. Gleichviel; in Geschäften muß man
auch mißverstehen können; dann wird mitunter
aus einem törichten Gedanken ein verständiger,
man findet für freundliche Mitwirkung Anerken-
nung und für gute Laune Belohnung.
III.
In seiner Rede hat der Kanzler auf das Beispiel
industrieller Syndikate hingewiesen und somit
an kaufmännisch geschultes Denken appelliert; es
darf deshalb in einer Ausführung, der ohnedies der
Vorwurf theoretischer Betrachtung schwerlich er-
spart bleibt, der Versuch gemacht werden, zu er-
mitteln, wie weit kommerzielle Denkformen sich
auf das Abrüstungsproblem anwenden lassen.
Zunächst würde man anstreben, das Problem klar
I»»
179
zu umschreiben. Ist dies in dem Sinne geschehen,
wie oben angeführt, daß es sich nicht um eine Rang-
ordnung der Nationen handelt, nicht um eine mecha-
nische Minderung der Kontingente, sondern viel-
mehr um die Ermittlung eines Anspannungsver-
hältnisses, um die Anpassung der Streitkräfte an die
Leistungsfähigkeit, so erkennt man sofort, daß die
Aufgabe in zwei Teile zerfällt : einmal die Bindung
des materiellen Aufwandes an das Vermögen, so-
dann die Bindung des Menschenaufwandes an die
Bevölkerungszahl.
Sogleich erhebt sich eine Schwierigkeit. Denn es
fehlt uns an Methoden, das Vermögen, ja auch nur
das Einkommen eines Landes genau rechnerisch
zu ermitteln. Indessen ist uns eine Größe bekannt,
die in gewissem Sinne gleichzeitig ein Abbild des
Volks Vermögens und des Zivilisationsstandes dar-
stellt : die Summe der öffentlichen Lasten, die sich
aus allen direkten und indirekten Abgaben zusam-
mensetzt. Diese Größe ist zwar nicht mit der End-
summe der Staatshaushalte identisch : einmal, weil
in Deutschland zum Beispiel gewisse Beträge in den
Einzelhaushalten verrechnet werden, die im Reichs-
budget wiederkehren, sodann weil von den Staats-
monopolen in den verschiedenen Ländern nicht die
Gesamtausgaben, sondern nur die reinen Über-
schüsse einzusetzen sind. Immerhin lassen sich ohne
grundsätzliche Schwierigkeit Verrechnungsweisen
feststellen, aus denen mit genügender Genauigkeit
die Summe der Staatsausgaben — natürlich mit
Ausschaltung des Schuldendienstes — hervorgeht.
Aufgabe nun wäre es, zu bestimmen, daß alle
jährlichen Ausgaben für Land-, See- und Luftheer
ein festes Verhältnis zur Gesamtausgabe des Staates
i8o
nicht überschreiten dürfen. Ein internationaler
Rechnungshof hätte die Abrechnungen zu prüfen.
Nach kommerziellen Erfahrungen läßt sich die-
sem ersten Schritt ein zweiter anfügen: wenn man
nämlich berücksichtigt, daß im allgemeinen solche
Beschränkungen williger aufgenommen werden, die
man nicht für die Gegenwart, sondern für die Zu-
kunft und gewissermaßen auf Zuwachs bemißt.
Geht man davon aus, daß in jedem Staat die
Lasten für Heer und Flotte, auf den Kopf der Be-
völkerung berechnet, einen gewissen Satz ausmachen,
für den man etwa den in Deutschland bestehenden
als Norm ansehen könnte ; bestimmt man nun, daß der
anderthalbfache oder doppelte Betrag dieses Normal-
satzes als Höchstgrenze zu gelten habe, die in gewissen
Staffeln erreicht, aber niemals überschritten werden
dürfe — so wäre eine Beschränkung geschaffen, die
zwar für den Augenblick unwirksam bliebe, die viel-
leicht aber schon nach einemMenschenalterdenDruck
der Rüstungsopfer wesentlich erleichtern könnte.
Rechnerisch übersichtlicher als die Anpassung
des materiellen Aufwandes an den Volkswohlstand
erscheint die Anpassung des menschlichen Aufwan-
des an die Bevölkerungsgröße. Denn diese ist durch-
weg aufs genaueste feststellbar und zumeist fest-
gestellt, so daß es fast seltsam erscheinen müßte,
wenn niemals der internationale Vorschlag gemacht
worden sein sollte: ein Höchstverhältnis der jähr-
lichen Aushebungen zur Bevölkerungszahl zu be-
stimmen, für das etwa dasjenige Frankreichs, als
ein besonders vorgeschrittenes, zu wählen wäre.
Auch hier ließe sich die erste Beschränkung durch
eine zweite steigern, indem man dazu schritte, so-
wohl eine maximale Dienstzeit für Heer und Flotte,
i8i
wie auch eine obere und untere Altersgrenze des
kriegstüchtigen Alters zu bestimmen.
Es kann nicht die Aufgabe dieser in vier Sätzen
gezeichneten Umrißlinie sein, ein internationales Ab-
rüstungsprogramm einwandfrei und gebrauchsfertig
zu entwerfen; es genügt, wenn dargetan erscheint,
daß gerechte und verständliche Vorschläge sich
finden lassen, die einer großen und entwicklungs-
fähigen Macht keinen Abbruch tun, die eine freund-
willige Mitarbeit in humanen Völkerfragen zu er-
kennen geben und es andern überlassen, sich zu
entdecken, sofern es diesen nicht um die Sache selbst,
sondern um Nebenabsichten zu tun war.
Gelingt es überdies, den Gedanken zu bekräftigen,
daß in der Welt keine Tatsache und Realität in die
Erscheinung treten kann, die, sei sie auch noch so
verwirrend, sich nicht mit Lust und Humor zum
Guten wenden ließe, so ist der Wunsch dieser Be-
trachtung erfüllt.
182
STAAT UND JUDENTUM
EINE POLEMIK
I.
Erwiderung auf einen Artikel des Herrn Ge-
heimrat ***
Herr Geheimrat *** hat sich in freier und vor-
nehmer Art über die Judenfrage geäußert. Er
beginnt mit einer objektiven und weitgefaßten Ana-
lyse des jüdischen Geistes, kommt zu dem Schluß,
daß eine Verschmelzung jüdischen Positivismus mit
germanischer Transzendenz zu erstreben sei, und
geht über zu den Ursachen der gegenwärtigen Ab-
sonderung.
Hier teilen sich unsre Wegr zum ersten Male,
denn *** erblickt den Inbegriff der trennenden
Faktoren in der Synagoge.
Der heutige kultivierte Jude ist meines Erachtens
weniger als irgend ein anderer zeitgenössischer Kul-
turträger vom Dogmatisch- Religiösen abhängig.
Er betrachtet seinen Väterglauben als einen ab-
geklärten Deismus im Sinne der Philosophen des
i8. Jahrhunderts, ist im mythologischen^ histori-
schen, exegetischen, dogmatischen, ja selbst im
rituellen Bereich der geschichtlichen Nationalreli-
gion wenig bewandert, und tritt in der Regel nur
anläßlich der sakramentalen Handlungen des Lebens
in Berührung mit der Religionsgemeinschaft. Ein
so lockeres Verhältnis schafft keine Absonderung;
sonst müßte sie bei den weitaus glaubenseifrigeren
Katholiken fühlbarer sein als bei den Juden.
Die wahre Ursache der Trennung liegt in tiefer
und alter Stammesabneigung.
Die Abneigung der Juden gegen die Germanen
war in der Zeit der materiellen Bedrückung lebhaft,
ja leidenschaftlich. Seit zwei bis drei Menschen-
I8S
altern stirbt sie ab und weicht bei den jüngeren Ge-
sch-lechtern einer rückhaltlosen Anerkennung der
Nation, der sie den wertvollsten Teil ihrer Geistes-
güter verdanken.
Auf christlich-deutscher Seite ist die Abneigung
bis vor etwa zwei Jahrzehnten stark angewachsen,
und zwar in gleichem Maße wie die Zahl, der Reich-
tum, der Einfluß, der Wettbewerb, das Selbstbe-
wußtsein und die Schaustellung der Juden fühlbar
wurde. Seit der letzten Antisemitenperiode scheint
die deutsche Abneigung stetig geblieben, vielleicht
um eine Kleinigkeit rückgebildet zu sein.
Auf ein Erlöschen dieser Abneigung ist kaum zu
hoffen, solange der Staat sie durch gegensätzliche
Behandlung billigt, anpreist und rechtfertigt, und
solange gewisse Stammeseigentümlichkeiten den
jüdischen Deutschen seinem christlichen Lands-
mann erkennbar und verdächtig machen.
Es liegt nahe, den Juden anzuraten, durch eine
energische Selbsterziehung, die schon seit einem
Jahrhundert von vielen geübt wird, alle ablegbaren
Seltsamkeiten zu beseitigen. Vor Jahren habe ich
dies ausgesprochen in der Meinung, daß so die edel-
sten Gegenkräfte des Antisemitismus geweckt und
hiermit im eigentlichen Sinne Not zur Tugend
werde. Doch habe ich mir nicht verhehlt, daß es
hart ist, Opfer als Gegenleistung für Bedrückung
zu verlangen, und daß dieses Volksopfer lange Zeit-
läufte zu seiner Erfüllung braucht.
*** stellt ein solches Verlangen nicht; er empfiehlt
den Juden nichts weiter, als zum christlichen Glau-
ben überzutreten.
Trotz falscher Diagnose könnte immerhin das
Heilmittel nützen. Versuchen wir daher einmal,
i86
vorurteilsfrei festzustellen, was einem aufgeklärten
Juden unsrer Zeit die Taufe bedeutet.
Ich glaube, daß die vier Evangelien dem gebilde-
ten Juden so vertraut sind wie dem gebildeten
Christen, und habe niemals einen Juden getroffen,
der die Ethik des Neuen Testaments abgelehnt
hätte. Einzelne glauben sie im Alten Testament
enthalten, andere erkennen rückhaltlos ihre Über-
legenheit über alle uns bekannten Sittenlehren an.
Die Transzendenz des Christentums: Erlösung
durch Liebe ist eine dem Judentum naheliegende
Vorstellung, und die Göttlichkeit Christi im Sinne
liberaler evangelischer Kirchenlehrer wird unter den
Juden, die den Geist als Ausfluß der Gottheit fühlen,
Bekenner finden.
Anders liegt es mit dem Bekenntnis der Taufe,
dem Apostolikum. Ich weiß nicht, wie viele er-
wachsene evangelische Christen im Schöße ihrer
Kirche verbleiben würden, wenn ihnen heute ein
Modernisteneid im Sinne unbedingter Anerkennung
des vorgeschriebenen Glaubensbekenntnisses zu-
geschoben würde. Für den Juden liegt der Fall
schwieriger : je selbstverständlicher ihm die inneren
Heilswahrheiten der christlichen Glaubenslehre er-
scheinen, desto entschiedener sieht er sich auf das
eigentlich Trennende des Bekenntnisses, auf die
dogmatisch-mythologischen Bestandteile als die
eigentliche, zu überschreitende Grenzlinie hinge-
wiesen, und es wird nicht leicht sein, seiner Emp-
findung vernehmbar zu machen, weshalb diese über-
wiegend nachevangelischen Sätze, wie die von der
Himmel- und Höllenfahrt Christi, über seine und
seiner Kinder Lebenslage entscheiden sollen.
Dieser Konflikt wird von der staatlichen Kirche
187
empfunden und geflissentlich vertieft. Auf einer
früheren Synodalversammlung wurde bei der Be-
ratung der Bekenntnisfrage im Hinblick auf die
Judenbekehrung offen ausgesprochen: es sei an der
Zeit, die Türen zu schließen. Mit andern Worten:
es sei angezeigt, die Gewissenszweifel jüdischer
Proselyten zu benutzen, um ihnen den Zugang zur
Kirche zu verstellen. Wieweit diese Taktik mit dem
Geist der Evangelien zu vereinen ist, habe ich nicht
zu beurteilen.
Wiederholt hört man sagen, es gäbe evangelische
Geistliche, die es mit dem Glaubensbekenntnis so
streng nicht nähmen. Insbesondere erklären ge-
taufte • Judenchristen fast übereinstimmend, in
ihrem Falle sei es besonders milde hergegangen.
Auf diese Betrachtungsweise einzugehen, verlohnt
nicht. Sie steht auf der gleichen Stufe wie etwa eine
Entschuldigung wegen Zollschmuggels in dem Sin-
ne, daß der verantwortliche Beamte es an Vorsicht
habe fehlen lassen.
Bedeutsamer für das Verhältnis des zeitgenössi-
schen deutschen Juden zur Taufe als die Frage des
Bekenntnisses ist ein zweites Moment. Jeder Staats-
bürger weiß, daß mit der Zugehörigkeit zum Juden-
tume nur bürgerliche Nachteile, mit Übertritt zum
Christentume erhebliche Vorteile verknüpft sind.
Den Juden trifft ein sozialer Makel. In die Ver-
einigungen und den Verkehr des besseren cJirist-
lichen Mittelstandes wird er nicht aufgenommen.
Zahlreiche Geschäftsunternehmungen schließen ihn
als Beamten aus. Die Universitätsprofessur ist ihm
durch stille Vereinbarung versperrt, die Regierungs-
und Militärlaufbahn, der höhere Richterstand durch
offizielle Maßnahmen. In den Jugendjahren eines
l88
jeden deutschen Juden gibt es einen schmerzlichen
Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert : wenn
ihm zum ersten Male voll bewußt wird, daß er als
Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist, und
daß keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus
dieser Lage befreien kann.
Gleichzeitig aber erfährt er, daß ein Glaubensakt,
gleichviel ob innerlich gerechtfertigt oder äußerlich
herbeigeführt, seine Abstammung zu verdunkeln,
seinen Makel zu tilgen, seine bürgerlichen Nachteile
zu beseitigen vermag.
Daß der generationsweise wiederkehrenden, täg-
ich erneuten Versuchung, die dieser eigenartige
Ausfluß unsrer Staatsweisheit herbeiführt, ein ver-
hältnismäßig kleiner Prozentsatz der deutschen Ju-
den erliegt, offenbart meines Erachtens die stärkste
Eigenschaft des modernen Judentums. Ich weiß,
daß Menschen, die sich von ganzem Herzen zum
Christentume hingezogen fühlen, auf die äußere
Zugehörigkeit verzichten, weil sie mit Belohnung
verbunden ist. Diesem Verzicht liegt die Über-
zeugung zugrunde, daß ein ideeller Schritt seine
Reinheit verlieren muß, wenn er zu materiellen Vor-
teilen führt; eine Erwägung, die nicht ganz zu der
Vorstellung paßt, die man gemeinhin von der kühlen
Berechnung des jüdischen Geistes sich bildet.
Die Forderung der Taufe enthält somit für den
gebildeten und gewissenhaften Juden eine doppelt
schwere Zumutung: sie legt ihm auf, ein altertüm-
lich-dogmatisch gefaßtes Glaubensbekenntnis ab-
zulegen, von dem er weiß, daß gerade die Verlegen-
heit, die es ihm bereitet, zur Beibehaltung beiträgt;
sie legt ihm ferner auf, sich als einen Menschen zu
smpfinden, der von der Ablehnung seines Väter-
189
glaubens geschäftlich oder sozial profitiert; und zu
guter Letzt nötigt sie ihn, durch den Akt löblicher
Unterwerfung sich einverstanden zu erklären mit
der preußischen Judenpolitik, die nicht weniger be-
deutet, als die schwerste Kränkung, die ein Staat
einer Bevölkerungsgruppe zuzufügen vermag. Denn
man vergleiche alle Maßnahmen, die von der preu-
ßisch-deutschen Politik gegen Volksgruppen selbst
in der Gegenwehr oder im Zorn ergriffen worden
sind, gegen Polen, Weifen, Dänen, Elsässer : niemals
hat man gewagt, eine dieser Gruppen in ausnahms-
loser Gesamtheit sozial zu entwürdigen.
In diesem Zusammenhange darf und muß es aus-
gesprochen werden: die der preußischen Judenpoli-
tik zugrunde liegenden Vorstellungen sind rück-
ständig, falsch, unzweckmäßig und unsittlich.
Rückständig: denn alle Nationen westlicher Kul-
tur haben diese Vorstellungen aufgegeben, ohne
Schaden zu erleiden.
Falsch: denn Maßnahmen, die gegen eine Rasse
gedacht sind, werden gegen eine Religionsgemein-
schaft gerichtet.
Unzweckmäßig: denn an die Stelle der offenkun-
digen Verjudung, die bekämpft werden soll, tritt
die latente, und zwar auf Grund einer üblen Aus-
lese; gleichzeitig wird eine große, konservativ ver-
anlagte Volksgruppe in die Opposition getrieben.
Unmoralisch: denn es werden Prämien auf Glau-
benswechsel gesetzt und Konvertiten bevorzugt,
während hunderttausend Staatsbürger, die nichts
anderes begangen haben, als ihrem Gewissen und
ihrer Überzeugung gefolgt zu sein, in ungesetzlicher
Weise und durch kleine Mittel um Bürgerrechte ver-
kürzt werden.
190
Ich. wage fast zu hoffen, daß Geheimrat
hierin recht geben wird: wenn man die Wahl hat,
eine ungesunde und unhaltbare Staatsraison zu be-
seitigen oder eine halbe Million Menschen zum
Glaubenswechsel zu bewegen, so sollte man es zu-
nächst einmal mit dem einfacheren Mittel versuchen.
Die deutschen Juden tragen einen erheblichen Teil
unsres Wirtschaftslebens, einen unverhältnismäßigen
Teil der Staatslasten und der freiwilligen Wohlfahrts-
und Wohltätigkeitsaufwendungen auf ihren Schul-
tern. Sie hätten die Mittel in der Hand, um eine un-
vernünftige Staatsräson in kürzester Zeit unmöglich
zu machen. Daß sie in weit überwiegender Zahl staats-
fördernd gesinnt bleiben, beweist einen Gemütszug,
der praktischem Christentum nicht unähnlich sieht.
Wie dem auch sei : die preußische Judenpolitik hat
ihre Glanzzeit überschritten, die mit dem Kampfe
Bismarcks gegen den Liberalismus zusammenfiel.
Ein Industriestaat von der Bedeutung unsres Reiches
bedarf aller seiner Kräfte, der geistigen und ma-
teriellen ; er kann auf einen Faktor wie den des deut-
schen Judentums nicht verzichten. Noch ehe ein
Jahrzehnt vergeht, wird der letzte Schritt zur Eman-
zipation der Juden geschehen sein.
Man kann nicht sagen, daß die deutschen Juden
das erste Jahrhundert ihrer beginnenden Freiheit
schlecht angewendet haben. Kulturell und materiell
haben sie zum Wohl ihres Vaterlandes beigetragen.
Ist der Makel sozialer Ungleichheit getilgt, so ist
damit auch der offizielle Teil der Volksabneigung
gegen die jüdischen Deutschen beseitigt und der
Weg zum herzlichen Verständnis gebahnt. Un-
dankbarkeit und Herzlosigkeit sind niemals Fehler
des semitischen Blutes gewesen.
191
IL
Sendschreiben an Herrn von N.
Ihre Ausführungen haben mich deshalb interes-
siert und angezogen, weil sie in knapper, klarer
und ehrlicher Sprache die normale Auffassung des
preußischen Staatsbeamten, Offiziers und Standes-
herrn, somit des herrschenden Preußentums, dar-
legen. Dieses Preußentum liebe und bewundere ich
als Preuße und als Mensch ; das kann mich aber nicht
hindern, es mit offenen Augen anzuschauen und
rückhaltlos die Stimme zu erheben, wenn es mir
zu irren oder zu fehlen scheint. Hierbei darf ich
das Vorrecht ausreichender Unparteilichkeit, das
ich Ihnen gern zugestehe, auch für mich bean-
spruchen. Vor einigen zwanzig Jahren hätte es mir
Freude gemacht, Soldat bleiben zu dürfen; heute
ist mein Alter und mein Tätigkeitskreis nicht mehr
derart, daß der Wunsch nach staatlicher Förderung
mich beunruhigen könnte.
Ihre Darlegung steht und fällt mit der Behaup-
tung, daß der deutsche Jude anders geartet und in
entscheidenden Eigenschaften weniger wert sei als
sein uransässiger Landsmann, daß seine staats-
erhaltende Veranlagung und seine staatsfördernde
Befähigung nicht zureiche. Die weiteren Voraus-
setzungen: daß ein gesitteter Staat berechtigt sei,
ihm unbequem scheinende Elemente mit kleinen
und unverfassungsmäßigen Mitteln zu bekämpfen,
daß er „den Sack schlagen und den Esel meinen"
dürfe, das heißt, eine Religionsgemeinschaft ab-
wehren, um eine Blutsgemeinschaft fernzuhalten;
daß er Gewissenskonflikte seiner B ürger schüren dürfe,
indem er auf Glaubenswechsel Prämien setzt; daß er
192
überzeugungstreu Gebliebene benachteiligen dürfe
zugunsten mobilerer Elemente — diese Voraussetzun-
gen, die mir durchaus nicht einwandfrei erscheinen,
treten gegen den ersten Satz in den Hintergrund.
Ich müßte demnach wohl den Nachweis zu er-
bringen suchen, daß die deutschen Juden nicht „in
jeder Beziehung anders gestaltet", daß sie nicht,
praktisch betrachtet, menschlich und staatlich min-
derw^ertig sind.
Ich verzichte darauf, diesen Beweis anzutreten.
Nicht deshalb, weil es hart ist, daß jemand, dessen
Vorfahren, Familie und Person sich seit Menschen-
altern redlich bemüht haben, dem Lande zu nützen,
seinen Bürgern Arbeit zu schaffen und seine Wirt-
schaft zu heben, sich gegen den Vorwurf wehren
muß, minderwertiger Insasse zu sein. Ich bin der
Kritik und Selbstkritik zugänglich und habe sie in
der von Ihnen erwähnten Schrift geübt, indem
ich den deutschen Juden minderer Kultur eine
Reihe von äußeren Schwächen und Mängeln vor-
hielt.
Ich verzichte deshalb, weil die Ablenkung auf
allgemeine Prinzipienfragen den Tod jeder real-
politischen Erörterung bedeutet.
Nur drei Bemerkungen zu der Minderwertigkeits-
frage seien mir im Vorübergehen gestattet.
Erstens. Meines Erachtens sollte niemals ein
Einzelner ein Verdammnisurteil über einen ganzen
Kulturstamm aussprechen. Wie oft Ist von Fran-
zosen und Engländern über Deutsche, von Deut-
schen über Franzosen und Engländer, über Polen,
Russen, Österreicher, Italiener der Stab gebrochen
worden. Solche allgemeine Kritiken haben nicht
den Wert politischer Urteile, denn sie sind getrübt
X.X3 193
durch die Begrenztheit der Erfahrung, durch per-
sönliche Vorliebe und Abneigung und häufig durch
zufällige Erlebnisse. Den Juden gegenüber wird
das Urteil vorwiegend zum Identitätsurteil: denn
in der Regel wird nur der unkultivierte Jude als
Jude erkannt und getadelt.
Zweitens. Juden erscheinen als neuerungsliebend
nur da, wo man sie schlecht behandelt, und das ist
menschlich. Das Gegenteil wäre Charakterlosigkeit.
In Ländern der Gleichberechtigung, in England,
Frankreich, Italien, Amerika gehören sie zu den
staatlich positivsten Elementen. Daß das Judentum
überhaupt besteht, verdankt es dem strengsten Kon-
servatismus, den die Geschichte kennt.
Drittens. Sie schätzen die Intelligenz der Juden.
Ich teile Ihre Ansicht, daß Intelligenz erst in Ver-
bindung mit ethischen Werten Bedeutung erhält.
Mangelt es den Juden nun in so hohem Maße an
ethischen Werten, daß sie deshalb zur Ausübung
jeglicher staatlichen Autorität unmöglich wären,
so müßte sich dieser Mangel wissenschaftlich, stati-
stisch, geschichtlich fassen lassen. Polen, Slowe-
nen, Rumänen, Serben, sie alle sind regierungsfähig :
die Juden sind es nicht. Oder sind sie es am Ende
doch ? Verdankt nicht England seine Imperialpolitik
einem Juden, dessen Standbild vor der Westminster-
kirche steht ? Haben nicht Frankreich, Italien, Ruß-
land, Österreich und sogar Preußen ein paar ganz
tüchtige Minister jüdischen Blutes gehabt ? Im
westlichen Auslande sind weit mehr Stammesdeut-
sche als Juden ansässig. Wie wäre es, wenn am Ende
gar die Statistik der Regierenden zugunsten der
Juden ausschlüge ?
Aber genug hiervon. Ich weiß, daß Sätze von
194
einer gewissen Allgemeinheit nicht widerlegbar
sind, und will deshalb getrost für den Augenblick
einmal annehmen, die Juden seien ethisch, poli-
tisch, sozial ein minderwertiges Element, somit er-
heblich tiefer stehend als etwa die österreichischen
Polen und Tschechen. Was bedeutet dies — um
Ihrer wissenschaftlichen Anschauungsweise zu fol-
gen — wissenschaftlich ?
Zur Bekleidung eines höheren militärischen,
richterlichen oder gouvernementalen Amtes in
Preußen sind gewisse Vorbedingungen der Erzie-
hung, der Bildung, des Charakters und des Phy-
sischen entscheidend. Nicht alle Preußen erfüllen
diese Bedingungen. Nehmen wir also das Verhältnis
der Regierungsfähigen auf 20 Prozent an, so können
wir bei wissenschaftlicher Betrachtung nicht mehr
tun, als das gleiche Verhältnis bei den Juden auf die
Hälfte, also auf etwa 10 Prozent herabzusetzen. Was
bestimmt nun die preußische Verwaltungspraxis
dazu, diese 10 oder x-Prozent einfach zu ignorieren ?
Ihre Ausführungen zeigen genügend Geschmack
und Aufrichtigkeit, um zu erklären, weshalb Sie
das landläufige Argument verschmäht haben: der
jüdische Vorgesetzte hat keine Autorität. So viel
Autorität wie der getaufte Jude darf der ungetaufte
unter allen Umständen beanspruchen. Wäre es
anders, so hieße das: der Untergebene treibt Reli-
gionsverfolgung auf eigene Faust, und die Remedur
hätte bei ihm zu beginnen.
Ein anderer Einwand wäre plausibler: der Pro-
zentsatz der Verantwortungsfähigen unter den Ju-
den ist gleich Null oder verschwindend klein. Hier
kann ich mich auf kein besseres Gegenzeugnis be-
rufen als auf das der preußischen Regierung. Sie
>s* 195
bestellt und befördert jährlich Dutzende von Juden,
die durch die Taufe weder an Fähigkeit noch an
Zuverlässigkeit gewonnen haben. Sie bekleidet
diese Schützlinge mit aller ihr zustehenden Autori-
tät, übernimmt die Verantwortung für ihre Amts-
handlungen — und fährt nicht ein mal schlecht dabei.
Dies führt mich zur Erledigung eines dritten Ein-
wandes, desjenigen, den Sie zu dem Ihren gemacht
haben: das Eindringen des jüdischen Geistes muß
verhindert werden.
Gäbe es unter den kultivierten Juden einen sol-
chen jüdischen Geist, so hätte er den mit Juden
reichlich verschwägerten preußischen Adel und die
mit getauften Juden stark durchsetzte Staatsbeam-
tenschaft längst ergriffen. Sie werden ebensowenig
wie ich Klagen darüber gehört haben, daß durch
Männer wie Simson, Friedberg, Friedenthal, Moß-
ner die preußische Justiz, Verwaltung und Armee
mit sogenanntem jüdischen Geist infiziert wor-
den sei.
Die Tatsachen liegen einfach und mit klaren Wor-
ten gesagt wie folgt :
Die Regierung wehrt sich gegen das jüdische
Element und schützt Unbrauchbarkeit der Juden
vor. Die Religionsfrage spielt, wie sie selbst zuge-
steht, keine Rolle.
Nun hat sie aber nicht die Courage oder nicht
die Findigkeit gehabt, sich der getauften Kategorie
zu erwehren, und die Brauchbarkeit dieser Kategorie
beweist a fortiori die Brauchbarkeit der ungetauften
und somit die Unwahrhaftigkeit des Vorwandes.
In dem neulich veröffentlichten Aufsatz habe ich
es vermieden, die letzten Ursachen dieser hilflos-
brutalen politischen Tendenz zu erörtern, denn
196
meine Ausführungen waren nicht gegen sie gerichtet,
sondern gegen den etwas zu handgreiflichen Vor-
schlag des Herrn Geheimrats *** : alle Juden möch-
ten sich taufen. Da Sie, verehrter Herr v. N., den
Regierungsmaßnahmen, meines Erachtens unzutref-
fende, ideelle Motivierungen unterstellen, so muß
ich erwidern, daß die wahren Ursachen lediglich
in der Furcht der in Preußen herrschenden Klasse
vor liberalem Wettbewerb zu finden sind.
Die Judenpolitik ist nichts weiter als der letzte
Ausdruck der gegen Unzünftige gerichteten In-
teressenpolitik der beiden herrschenden Kasten. Sie
selbst sagen mit dankenswerter Offenheit : „Unsre
Familien haben den preußischen Staat geschaf-
fen, wir arbeiten seit zweihundert Jahren daran,
wir sollen nun Ihnen eine führende Hand an der
Staatsmaschine lassen?"
Ich antworte Ihnen darauf offen und ohne eine
Spur von Ironie: Dies ist das einzige Argument,
das sich hören läßt, für das ich ein gutesTeil Sympathie
hege, und das einer Verständigung zugrunde gelegt
werden kann. Es ist richtig, daß der preußische Adel
das leider absterbende alte Preußentum geschaffen
hat, es ist richtig, daß er einen prächtigen, zum Re-
gieren im älteren Sinne überaus geeigneten Stamm
bildet, es ist hart, daß er seine hundertjährigen Vor-
rechte, mit wem es auch sei, teilen soll.
Begnügen Sie sich mit diesem starken Argument,
das zum Verständnis und zum Herzen spricht, und
bedecken Sie es nicht mit dem Mantel einer Stam-
meskritik, die bei einzelnen auf Grund zufälliger
Erlebnisse und begrenzter Erfahrung echt sein mag,
die aber im Angesicht von tausend persönlichen
Freundschaften und Ehebündnissen zerflattert.
197
Denn trotz mancher Schwäclien, die StandesKerren
und Emporkömmlinge sich wechselweise vorzuwer-
fen haben, vertragen Adel und Judenschaft sich
gar nicht so schlecht, und die Ägis der Stammes-
feindschaft wird vorwiegend nur dann geschüttelt,
wenn InteresscD aufeinanderplatzen.
Sagen Sie uns offen und ehrlich: wir fürchten
eure Konkurrenz; bekämpfen Sie uns, wenn Sie
wollen, aber mit ritterlichen Waffen. Beschimpfen
Sie uns nicht. Nicht Sie blicken in unsre Herzen,
und es ist das härteste, was der Mensch dem Men-
schen zurufen kann, wenn er sagt : Dein Blut, deine
Seele, deine Gesinnung" hat keinen Teil an unsrer
Gemeinschaft, du bist und bleibst anders geartet,
unedel, fremd.
Den Kampf aber werden Verhältnisse entschei-
den, nicht Menschen. Eine aufrichtige und un-
sittliche Politik kann keinen Bestand haben, die
preußische Judenpolitik aber wird noch früher an
ihrer Unzweckmäßigkeit scheitern als an ihrer Un-
gerechtigkeit.
Hier muß ich nochmals auf Ihr Wort zurück-
greifen: „Unsre Familien haben den preußischen
Staat geschaffen."
Als Ihre Familien den Staat schufen, da trugen
sie ihn auch, denn der Staat war ein Agrarstaat, und
sie besaßen den Grund und Boden. Heute tragen
sie ihn nicht mehr, denn Preußen sowohl wie das
Reich sind Industriestaaten geworden; die Land-
wirtschaft kann die achtmalhunderttausend Deut-
schen, die jährlich geboren werden, weder beschäf-
tigen noch ernähren. Noch weniger kann sie die
Lasten erschwingen, deren Staat und Reich zu ihrer
Erhaltung und Verteidigung bedürfen.
198
Wert und Bedeutung der Landwirtschaft lasse
ich unangetastet. Sie aber werden nicht leugnen
können, daß Handel und Industrie, die entscheiden-
den Faktoren unsrer Wirtschaft, auf dem Bürger-
tum und nicht zum mindesten dem jüdischen Bür-
gertum beruhen. Und deshalb können Sie den Ele-
menten, die die Wirtschaft erhalten, auf die Dauer
nicht die Mitwirkung an der Verwaltung versagen.
Regieren ist heute nicht mehr dasselbe, was es
vor hundert Jahren war. Es ist nicht mehr patri-
archisches Verwalten anvertrauter Menschen und
Dinge. Regieren heißt heute: führen und Initia-
tive ergreifen; diese Initiative muß ethisch und
ideell, sie muß aber auch geschäftlich sein.
Gleichzeitig ist die Kriegführung zur Technik
geworden. Sie beruht nicht mehr allein auf Manns-
zucht und Bravour; Erfindungsgabe und Initiative
geben den Siegen der neueren Zeit eine intellektuelle
Färbung.
Die bewährten Stärken unsrer beiden regierenden
Kasten, des erblichen Beamtentums und des Adels,
sind Treue, Zucht und Überlieferung. Ob diese Ge-
schlechter auf der ganzen Linie einzuschwenken und
den neuen Aufgaben gegenüber Front zu machen
vermögen, ist mehr als zweifelhaft, denn Über-
lieferung und Neuerung schließen bis zu einem ge-
wissen Grade einander aus. Bei Aufgaben vorwie-
gend geschäftlichen Charakters, welche aus kolo-
nialen, auswärtigen und finanziellen Problemen sich
ergeben, hat die preußische Verwaltungstradition
schon mehrfach versagt.
Ein Volk von .fünfundsechzig Millionen Men-
schen kann verlangen, daß die führenden Stellen
im Staatswesen von allerersten Talenten, die ver-
199
antwortlichen Stellen von befähigten Spezialisten
besetzt werden.
Tausend herrschende Familien können selbst bei
hoher und spezialisierter Begabung weder an Zahl,
noch an Beschaffenheit den gewaltig gesteigerten
Verbrauch an Verwaltungskräften decken. Kein
gerecht denkender Mensch wird diesen Familien
ihre Verdienste zu schmälern, ihre entschiedene Mit-
wirkung bei den höchsten Staatsaufgaben zu be-
seitigen wünschen. Wollen sie aber dauernd die
Staatsmaschine monopolisieren, so werden die Ver-
hältnisse sich stärker erweisen und diejenigen Ab-
hilfen eintreten lassen, die den widerspenstigen Kon-
servatismus Preußens schon mehrmals, wenn auch in
hartem Anstoß, zurechtgerückt haben, und die man
demgemäß sehr wohl als Fügungen bezeichnen durfte.
Deshalb bleibe ich bei meiner Überzeugung und
Zuversicht: der Staat kann auf keine seiner geistigen
und sittlichen Kiäfte verzichten; er muß und wird
dem Bürgertum im weitesten Sinne, und somit auch
den Juden, die Mitwirkung an den gemeinsamen
Arbeiten zugunsten des Staatswohls gewähren, und
dies in kürzerer Zeit, als die Beteiligten annehmen.
Erkannte Notwendigkeiten schreiten rasch zur Er-
füllung; jetzt ist der Zeitpunkt, sie auszusprechen.
III.
Erwiderung auf das Schreiben eines be-
freundeten Grundbesitzers
Erstaunt war ich, das volkstümdiche Kennwort
des „Staates im Staat'' von meinem Freunde
aufgenommen zu sehen; denn er selbst blickt auf
seiner und seiner Gemahlin Seite auf zwei stattliche
200
Reihen jüdischer Vorfahren zurück, deren nationale
Gesinnung bekannt ist. Gleichviel. Sehen wir zu,
was die Lehre von der Internationalität der Juden
bedeutet.
Schwerlich gibt es heute noch einen ernsten Be-
urteiler, der behauptet, im Kriegsfall möchten sich
die deutschen Juden auf "die Seite des Feindes stellen.
Ebensowenig habe ich je den Vorwurf gehört, sie
hätten gelegentlich in Friedenszeiten mit einer aus-
wärtigen Macht zu liebäugeln oder anzuzetteln ge-
sucht, um Deutschlands Stellung oder Politik zu er-
schüttern.
Die Sinnlosigkeit der Unterstellung wird doppelt
einleuchtend, wenn man die unvorsichtigen Ver-
gleiche mit Polen, Elsässern und Dänen prüft, denn
diese Vergleiche enthüllen sich als Gegenbeweise.
Polen, Elsässer and Dänen blicken auf außerdeut-
sche politische Zentren; die Polen auf ihr altes
Königreich, die Elsässer auf Frankreich, die Dänen
auf Dänemark. Wollte man unter den Juden selbst
den geringen Einschlag der Zionisten politisch
fassen, so könnte man nur sagen, daß es sich um ein
Auswanderungsideal handelt. Eine Absplitterung
deutscher Landesteile zugunsten eines jerusalemiti-
schen Staates hat wohl noch niemand befürwortet
oder befürchtet. Es bleibt also für die überwiegende
Mehrzahl der Juden die Tatsache offenkundig, daß
sie außerhalb des Reiches kein politisches Zentrum
oder Ideal kennen, während die deutschen Katholi-
ken, deren Nationalitätsgefühl kaum angezweifelt
werden dürfte, jenseits der Alpen ein anerkanntes
religiöses Zentrum verehren, das sich politisch durch-
aus nicht immer teilnahmslos verhält.
Während man nun ganz mit Recht Polen, Elsässer
20I
und Dänen als gutgläubig national so lange aner-
kennt, bis sie selbst den Gegenbeweis erbringen,
hat man sich in aller Ruhe daran gewöhnt, die Juden
ohne die Spur eines Anhalts des Antinationalismus
zu beschuldigen und ihnen den Rechtfertigungsbe-
weis zuzuschieben ; ja man geht, wie die Ausführun-
gen meines Freundes zeigen, noch weiter und hält
den durch bürgerliche Minderung bestraften Un-
verdächtigen drohend das Beispiel der verdächtigen
und unbestraften Fremdnationalen entgegen.
Der Jude soll durch die Taufe den Nachweis
der Loslösung erbringen; Loslösung wovon? Von
seiner Familie ? Seiner Religion ? Nein : von seiner
Nation. Wo liegt diese ? Gewerbsmäßige Antise-
miten haben den Humor, zu antworten: in der Al-
liance Israelite; indem sie nämlich eine wenig be-
kannte internationale Wohltätigkeitsanstalt mit den
Schrecken des Freimaurertums ausstatten. Was
würden wohl die deutschen Katholiken antworten,
wenn man von ihnen verlangte, sie möchten durch
Übertritt zur evangelischen Kirche den Nachweis
ihrer Loslösung von ausländischen Religionsorgani-
sationen erbringen?
Ich will meinen Widerpart nicht dialektisch wider-
legen, sondern mich mit ihm verständigen. Des-
halb komme ich ihm einen Schritt entgegen und
nehme an, er habe folgendes gemeint: die Juden
stellen die Einheit der Abkunft, die Einheit der
Religion und der Familie über die nationale Einheit;
sie sind daher schlechte Staatsbürger.
Der erste Teil des Satzes, den ich auf Grund mei-
ner Erfahrung bei zivilisierten Juden aufs entschie-
denste bestreite, läßt sich weder für diesen, noch
für irgendeinen andern Volksteil beweisen oder
202
widerlegen, abgesehen davon, daß es eine unwürdige
Zwecklosigkeit ist, seinem Mitmenschen in die tief-
sten Falten seines Gewissens nachzuspüren. Poli-
tisch entscheidend ist der zweite Teil : sind die Juden
schlechte Staatsbürger, oder sind sie es nicht ?
Da ist zunächst daran zu erinnern, daß wir nicht
mehr im Zeitalter der Gefühlsbehauptungen, son-
dern in einer wissenschaftlich forschenden Epoche
leben. Die fanatische Beschuldigung der Brunnen-
vergiftung und Hostienschändung führt heute nicht
mehr Tausende zur Folter und zum Tode. Wir
haben die Möglichkeit, Massenbeschuldigungen ver-
suchsmäßig zu prüfen. Wo ist nun das Material
politischer oder kriminaler Statistik, das auch nur
den Verdacht schlechter Staatsbürgerschaft bei den
Juden rechtfertigt ? Können fünf malhunderttausend
leicht erkennbare, statistisch überwachte, scharf
beobachtete Menschen ein nationales Vergehen so
heimlich verbergen, daß kein Reagens sich trübt
und kein Zeiger ausschlägt ? Und hat man das Recht,
in einem wissenschaftlich genannten Zeitalter so
unbewiesene, ja negativ widerlegte Massenbehaup-
tungen zur Grundlage einer Politik zu machen ?
Weiter. Die deutsche Judenschaft ist in Handel
und Wandel, in Besitz und Kultur so eng an das
Wohlergehen der deutschen Länder und des Deut-
schen Reichs geknüpft, daß kaum ein andrer Teil
des Volkes in gleichem Maße leiden würde, wenn
die politische Macht Deutschlands sich senkte. Viele
der kultivierten Länder bieten den Juden bessere
wirtschaftliche Aussichten als Deutschland, fast
alle bieten ihnen größere Rechte. Wenn sie dennoch
ihr wirtschaftliches und kulturelles Dasein an das
Land ihrer Heimat gekettet haben : ist es dann wahr-
203
scheinlich, daß sie dem Geschick dieses Landes gleich-
gültig oder übelwollend gegenüberstehen ?
Aber genug der negativen Beweise. Was ist denn
eigentlich nationale Gesinnung und Betätigung?
Besteht sie lediglich in unterwürfigen Redensarten
oder aggressiven Liedern ? Dann gebe ich die der
Juden gerne preis. Oder besteht sie in liebevoller
und hingebender, aufopfernder und freier Kultur-
arbeit zu Ehren und zum Segen des angestammten
Landes ? Dann möge der aufstehen, der vor Gott
und Gewissen behaupten kann, daß die deutschen
Juden ihr Maß von Kulturarbeit nicht ehrlich und
reichlich erfüllt haben, daß sie nicht mehr zu Deutsch-
lands Hoheit, Glück und Ehre beigetragen haben als
alle berufsmäßigen Antisemiten zusammengenom-
men. In diesem Zusammenhang ziemt es kaum
und beschämt es fast, vom Materiellen zu reden.
Dennoch sei die Nebenfrage gestellt: was geschähe
wohl, wenn die armselige halbe Million deutscher
Juden einmal zehn Jahre lang die Mittel, die sie den
Zwecken der allgemeinen Wohlfahrt, den Aufgaben
der Forschung und den Werken der Kunst zuwendet,
bis zum Eintritt besserer Zeiten aufspeichern woll-
te ? Manches wohltätige Werk bliebe ungeschehen,
manches Problem ungelöst, und die deutsche Kunst,
so sagen mir einige ihrer hervorragenden Vertreter,
könnte auswandern.
Soviel von nationaler Gesinnung. Doch da ich
im Zuge bin, möchte ich noch das Argument eines
Staatsbeamten erwähnen, das mir der Beachtung
wert schien. Er sagte : „Ja, wenn wir die Juden zu-
lassen wo wollen wir die Grenze finden ?"
Das, meine Herren, ist Ihre Sache. Stellen Sie
hohe Anforderungen. Scheiden Sie unerbittlich
204
jeden aus, dessen Herkunft, Erziehung, Gesinnung
Talent oder Charakter Ihnen den mindesten Zwei-
fel läßt. Überwachen Sie die Ausgewählten mit
doppelter Strenge. Und wenn das Material, das Ihrer
gewissenhaften Prüfung standhält, noch immer
Ihnen zu umfangreich erscheinen sollte: — dann
freilich haben Sie recht gehabt, wenn Sie bei Ihrem
notorischen Überfluß an Talenten in allen Ver-
waltungszweigen bisher eine so schroffe Enthaltsam-
samkeit üben.
Zum Schluß möchte ich neben meinen Gegnern
und Fürsprechern auch der Zahl derer danken, die
mir versicherten, meinen Ausführungen könne man
wohl beistimmen, an eine Änderung der bestehen-
den Dinge könne jedoch in absehbarer Zeit nicht
wohl gedacht werden. Gewiß, so scheint es. Aber
bedenken Sie wohl : wenn heute im Land und Reich
die Dinge anders lägen, die Vollberechtigung der
Juden durchgeführt wäre, wie in England, Frank-
reich, Italien, wer würde ihre Aufhebung beantra-
gen ? Wer würde von solchem Antrag Erfolg er-
warten ?
Auf der Gewalt der Trägheit beruhen heute diese
Dinge, nicht auf Sinn und Recht, Not oder Gesetz.
Deshalb kann trotz Lauheit, Schwäche, Gleich-
gültigkeit und Übelwollen die Minderung des Rechts
und die Beugung des Gesetzes keinen Bestand haben.
Und wenn wohlwollende Anhänger der Gewohnheit
mich mit der Beständigkeit des Herkömmlichen ver-
trösten, so antworte ich ihnen im Vertrauen auf
eine immanente Gerechtigkeit: Das Herkömmliche
an sich kann sich noch lange halten, auch wenn es
schon seinen Sinn verloren hat; jedoch nicht mehr,
wenn es zum Unrecht geworden ist. Wer es als Un-
205
recht erkannt hat und dennoch stützt, der macht
sich zum Mitschuldigen.
Von den Juden erhoffe ich, daß sie auch während
der Dauer ihres Minderrechts unablässig an ihrer
Selbsterziehung arbeiten, in allen guten Tugenden
mit ihren christlichen Landsleuten wetteifern und
in verdoppelter Liebe ihrem Lande dienen. Ihres
guten, wohlerworbenen und ungesetzlich verküm-
merten Rechtes mögen sie gedenken, nicht in Groll,
aber in Zuversicht, Gott wird's richten.
IV.
Schlußbe merkung
Eine unpolemische, aber persönliche Bemer-
kung mag diese Kontroverse aufklärend be-
schließen.
Ich kämpfe nicht für den jüdischen Reserveleut"
nant.
Ich bedaure auch nicht den Juden, der sich staat-
liche Verantwortung wünscht und sie nicht erhält.
Wer Verantwortung sucht, der hat sie; vor sich,
vor Menschen, vor Gott. Wer Einlaß erbittend sich
an Stellen begibt, wo man ihn nicht haben will,
tut mir leid; ich kann ihm nicht helfen.
Ich kämpfe gegen das Unrecht, das in
Deutschlandgeschieht, dennichsehe Schat-
ten aufsteigen, wohin ich mich wende. Ich
sehe sie,wenn ich abends durchdie gellen den
Straßen von Berlin gehe; wenn ich die Inso-
lenz unsres wahnsinnig gewordenen Reich-
tums erblicke; wenn ich die Nichtigkeit
kraftstrotzender Worte vernehme oder von
pseudogermanischer Ausschließlichkeit be-
206
richten höre, die vor Zeitungsartikeln und
Hof da menbe merkungen zusammenzuckt.
Eine Zeit ist nicht deshalb sorgenlos, weil
der Leutnant strahlt und der Attache voll
Hoffnung ist. Seit Jahr zehnten hat Deutsch-
land keine ernstere Periode durchlebt als
diese; das stärkste aber, was ins olchenZeiten
geschehen kann, ist: das Unrecht abtun.
Das Unrecht, das gegen das deutsche Ju-
dentum und teilweise gegen das deutsche
Bürgertum geschieht, ist nicht das größte,
aber es ist auch eines. Deshalb mußte es aus-
gesprochen werden. Das beste aber wird
sein, wenn je der von uns in sein menschliches,
soziales und bürgerliches Gewissen hinab-
steigt und Unrecht abtut, wo er es findet.
19H
207
ENGLAND UND WIR
EINE PHILIPPIKA
I, X4
Schicksalskriege sind Examina, die ein Staat durch-
machen muß, um in eine höhere Klasse versetzt zu
werden. Die Kriege des Großen Kurfürsten, Fried-
richs des Großen, Wilhelms 1. haben Brandenburg-
Preußen-Deutschland zum souveränen Staat, zur
europäischen Macht, zur Großmacht und zur Welt-
macht vorschreiten lassen. Eine kontinentale Hege-
monie hat Deutschland unter Bismarck kurze Zeit
ausgeübt; sie war nicht ausreichend befestigt und
wurde uns genommen.
Seitdem ist Deutschland zum volkreichsten,
heereskräftigsten, reichsten und industriellsten
Lande Europas erwachsen; seine Bevölkerung be-
läuft sich auf 65 Millionen Menschen, sein Heer auf
I V2 Millionen Streiter, sein Vermögen auf 300 Mil-
liarden, seine Gütererzeugung auf 50 Milliarden Mark.
Deutschland hat keine politischen Bestrebungen.
Es begnügt sich mit einem knappen Sechstel des
europäischen Einflusses, ist einverstanden, wenn
Frankreich, das nur im Bodenumfang mit ihm* sich
messen kann, gelegentlich die entscheidendere
Stimme im Konzert führt, und versagt sich, teils
aus Trägheit, teils aus mangelnder Tradition, aus-
wärtige Ziele. Dagegen kann es nicht vermeiden,
seinen Verbrauch und seinen Absatz zu sichern,
seinen Handel und seine Kolonien zu schützen;
Dies aber sind Verrichtungen einer Seemacht, und
somit muß Deutschland den Rang einer Seemacht
beanspruchen.
Die Frage ist nun, ob uns dieser Rang ohne er-
neutes Examen eingeräumt wird, und das Seltsame
besteht auch hier: daß unsere ernstesten Entschlüsse
von den andern gefaßt werden.
Frankreich, ein Staat, der niemals Realpolitik
14* 211
betrieben hat, der nicht wissen will, was ist, und
nicht zugeben will, was er weiß, Frankreich spielt
mit der Hoffnung, uns in den Halbschatten einer
mitteleuropäischen Mittelmacht zurücksinken zu
sehen. Zu schwach, um diesen Rückschritt zu er-
zwingen, begeht unsere schöne Nachbarin frauen-
zimmerliche Wege und gibt sich jedem männlichen
Beschützer hin, wenn er verspricht, den Räuber
ihrer Ehre zu züchtigen. Einen Angriff von Frank-
reich haben wir nicht zu fürchten, es sei denn, daß
es ein versteckter Angriff Englands ist.
England, das klügste und wahrhaft
politische Volk der Erde, versteht die
Lage vollkommen. England haßt uns
eigentlich nicht, aber es empfindet un-
sern Aufstieg als eine vierfache Gefahr.
Denn
erstens fühlt es sich technisch-indu-
striell überflügelt;
zweitens glaubt es sich verpflichtet,
gegen jede sich entwickelnde kontinen-
tale Vormacht einzuschreiten;
drittens wird sein koloniales Gebäude
innerlich erschüttert, wenn die Allein-
herrschaft zur See den Wert des ge-
schichtlichen Dogmas verliert;
viertens wird das Wettrüsten zu kost-
spielig und bei stetig wechselnder Tech-
nik im Erfolge ungewiß.
Der Krieg, den England zu führen hätte, wäre
somit ein Präventivkrieg; eine Kategorie, die Bis-
marck ablehnte.
Endete der Krieg mit einer entschiedenen Nieder-
lage Deutschlands, so hätte England eine Reihe
212
von JaKren Ruhe. Die inneren Ursachen der eng-
lischen Besorgnis wären jedoch nicht endgültig
beseitigt, denn sip liegen nicht in der Politik, son-
dern in den Kräften des deutschen Volkes begründet.
Kriege würden daher so lange sich periodisch wieder-
holen, bis der Weg der Weltentwicklung diese Rivali-
tät erledigte.
Jeder andere Ausgang des Krieges kann
außer Betracht bleiben. Wie er aber auch
fiele: immer läge der Hauptvorteil auf der
Seite der Vereinigten Staaten, und die ame-
rikanische Wirtschaftsfrage käme in ein so
verändertes Stadium, daß möglicherweise
alle andern Ergebnisse sich ihr unterord-
neten.
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß solche Argu-
mente jetzt, in diesem Augenblick, mit höchster
Klarheit und Unerschrockenheit in London erwogen
werden. Und es ist menschlich bedeutungsvoll, wie
ein edles Volk, in eine ihm fremde Rolle gepreßt,
mit seinen Empfindungen kämpft. Denn England
ist seit zwei Jahrhunderten gewohnt gewesen, jede
Frage vor seinen kurulischen Stuhl hintreten zu
lassen und gemächlich zu entscheiden. In seinen
Räumen ist viel diktiert und geordnet, viel gefordert,
manchmal gedroht, selten angeboten und niemals
gebeten worden. Unerhörtes hat man in Beratungen
und Kongressen erreicht, häufig zugegriffen, wo
es zu okkupieren gab, vorbereitete Eingeborenen-
kriege mit Entschlossenheit begonnen und beendet;
eine Politik der Phantastik, der Leidenschaft, des
Abenteuers und der Verzweiflung war der Dogen-
weisheit dieses Landes fremd. Nun vernimmt man
schon unenglisch heiße Zeitungsrufe; die zwie-
213
spältige Regierung war im Herbst dem Wagnis nahe,
und nur der mächtige Citybürger und Gentrymann
bewahrt seine hundertjährige Gelassenheit.
Ein einzigartiger englischer Zug: als politischer
Herold erscheint vor Beginn des Kampfspieles der
Freund des Premiers, Lord Haidane, in Berlin, Krieg
und Frieden in den Falten seines Überrockes tra-
gend. Und bald nach seiner Heimkehr bietet noch-
mals, zum letzten- und zum allerletztenmal, in
öffentlicher Rede der Seeminister die Treuga Dei,
den Gottesfrieden, quartalsweise mit gesetzlicher
Kündigung aus.
Es wäre eine törichte Verkennung, in diesen fast
ländlich einfachen Mitteln Tücke oder Windbeu-
telei zu suchen. Der Englischmann ist klug, aber
nicht fein; er hält nicht gerade jedes Versprechen,
aber er ist kein Schwindler. In keinem Lande ist
die persönliche Lüge so verpönt wie dort; will der
Engländer intrigieren, so bezahlt er mit schwerem
Geld ein paar schwarze Halunken; sich selbst zu
prostituieren, ist er zu stolz, zu reich und zu fromm.
Berlin ist nicht die Stadt des politischen Humors.
Der Kaiser hat ihn; aber fünfundzwanzig Jahre
auswärtiger Erfahrung bestimmen ihn zu der Er-
kenntnis, daß Geschäfte nicht von zwei Seiten aus
verantwortlich geleitet werden können. Der Halb -
konstitutionalismus, die absonderliche und
vorbildlose Staatsform, in der wir leben,
geht von dem Begriff einer gouvernemen-
talen Erbweisheit aus. Daher hat sie die
Eigenschaft, alles geschäftsmäßige Denken
durch verwaltungsmäßiges Denken zu
ersetzen und jede politische Teilnahme,
ausgenommen die wirtschaftlich interes-
sierte, im Volke zu töten. Preußen erzeugt
fortwährend vorzügliche Verwaltungsbe-
amte; dagegen hat es in hundert Jahren nur
einen einzigen bedeutenden Staatsmann
der auswärtigen Politik hervorgebracht.
Und dieser war ein Abseitiger, ausderRegie-
rung zweimal Entlassener; durch einen
dynastischen Zufall gelangte er in die Ge-
schäfte und hinterließ nach mehr als einem
Menschenalter keinen Jünger. Während
dieses Jahrhunderts aber war England im-
stande, in jeder Generation eine doppelte
Besetzung erster Staatskünstler und Diplo-
maten sich zu halten.
Daß in dem ungewohnten Augenblick, wo Eng-
land schwankt und seine im Innern bedrängte Regie-
rung bei uns die Auskunft sucht, die sie im Lande
nicht findet, daß in diesem seltsam angeweh-
ten Moment beiuns der leuchtende Gedanke
erfinderischen Humors aufsteige, der die
Runzeln von Europas Stirne glättet, dürfen
wir nicht mehr hoffen. Uns machen neue Situa-
tionen keine Freude; durch alle Stadien von der
simplen Störung zur Verlegenheit, von der Ver-
drießlichkeit zum Unwillen bewegt uns ein auf-
tauchendes Ereignis; es macht uns, bildlich gespro-
chen, in den meisten Fällen Leibschmerzen. Wir
sind passiv gesonnen; deshalb ging die heiter be-
gonnene Attacke auf Agadir so anmutlos zu Ende,
daß trotz geringfügigster Güterverschiebung Be-
teiligte und Unbeteiligte sich geärgert, abgespannt
und blamiert fühlten.
Zum Glück bedarf es jedoch diesmal nur einer
bürgerlichen Erwägung, um d^n Punkt zu finden.
von dem aus die Spannung zu lösen ist, sofern guter
Wille besteht.
Englandfühltsichbe droht, weil wir rüsten;
England rüstet, weil es sich bedroht fühlt;
wir rüsten nicht, weil England rüstet, aber
wir hören nicht auf, zu rüsten, solange Eng-
land rüstet: ein Zirkelschluß.
Kann der Vernünftige nachgeben? Können wir
den Kreisprozeß anhalten ?
Wir könnten es, wenn die Lage eine symmetrische
wäre. Sie ist es nicht.
Wir sind mit keinem Gegner Englands verbündet.
Vielleicht weil England keinen Gegner hat. Gleich-
viel. Aber England ist durch die Entente an unsern
erklärten Widerpart gebunden. Die Entente, ein
Produkt Marokkos, scheint in ihrer Hauptbestim-
mung erledigt. Geheime Klauseln sollen nicht be-
stehen: immerhin, die Entente selbst besteht; und
wir müssen glauben, daß sie mehr vorstellt als eine
Frühstücksvereinigung. Ist sie mehr, so hat England
nicht das Recht, von uns Rüstungsbeschränkungen
zu erwarten. Bedeutet sie nichts, so wird es leicht
sein, uns Sicherungen zu gewähren. Freilich dürfte
es nicht genügen, mündliche oder schriftliche Er-
klärungen zu wechseln: das sind Höflichkeiten und
Formeln, die kein Bündnis entkräften. Ist es Eng-
land wahrhaft darum zu tun, in Frieden mit
uns zu leben, so mag es einen Neutralitäts-
vertrag uns bieten, der uns, gleichgültig ob
die Entente besteht oder nicht, zu Freunden
macht.
Zeigt sich England zu diesem zwar untä-
tigen, doch friedfertigen Einverständnis
bereit, so ist es an uns, ein Rüstungsabkom
zi6
men zu finden, das beiden Nationen Luft
schafft: es sei nun, daß nach Churchills Vor-
schlag Rastjahre vereinbart werden, sei es,
daß man Kielzahlen oder Tonnengehalte
kontingentiert.
Weist England die Neutralität zurück, so wissen
wir, daß seine Friedensbeteuerungen nur bis zur
nächsten Verwicklung gelten. Dann wäre der Vor-
schlag der Abrüstung Phrase, seine Annahme
Schwäche. Bleibt überdies die Entente bestehen,
so haben wir Britannien als Gegner einzuschätzen;
denn Frankreichs Allianzen sind nicht Bündnisse des
Friedens, sondern des Kampfes und der Rache,
die gefährlich bleiben, auch wenn sie dem Bedürf-
nisse nationaler Redensart zuliebe geschaffen sind.
Gegen den Gedanken der Neutralität kann Eng-
land nur den einen erwägenswerten Einwand er-
heben: wer bürgt dafür, daß nicht im nächsten
Augenblick sich Deutschland auf Frankreich stürze,
um die Arbeit von 1870 zu beenden? Hierauf ist
zu erwidern : der ganze politische Kredit des Deut-
schen Reiches beruht auf seiner Mission als Friedens-
macht. Abgesehen davon, daß Deutschland keine
Gewinne erwarten könnte, die das Risiko und die
industrielle Zerrüttung eines Angriffskrieges recht-
fertigen, darf eine so zentral gelagerte Macht, ein-
geschlossen in überlange, schlecht geschützte Gren-
zen, nicht die Wege des Abenteuers und der gewalt-
samen Expansion beschreiten. Vierzig Jahre lang
war Frankreich vor uns sicher, in starken und in
schwachen Augenblicken; und wer uns die Humani-
tät der Friedensliebe und Enthaltsamkeit nicht zuer-
kennt, der wird uns die Klugheit der Selbsterhaltung
nicht abstreiten.
217
So liegt bei England die Entscheidung nicht allein
über guteß und böses politisches Wetter, sondern
über Krieg und Frieden. Nach einem Gesetze, das
man in Parodie eines physikalischen Satzes als das
Gesetz der kleinsten Wirkungen bezeichnen könnte,
haben die menschlichen wie die geschichtlichen
Ereignisse die Neigung, sich mit dem geringsten
Ausschlag, mit der unbedeutendsten Form zu be-
gnügen. Katastrophale Geschehnisse treten auf,
aber selten dann, wenn sie vorausgesagt wurden;
von zwei Möglichkeiten hat die neutralere die
größere Wahrscheinlichkeit. Das wirtschaftliche
Gewissen der Welt hat unbewußt seit einigen Jahr-
zehnten die Wahrheit dieses Satzes erkannt ; deshalb
bleiben Industriemärkte und Börsen, im Gegensatz
zu der Nervosität früherer Zeiten, indolent im
Anblick großer Gefahren.
Wohl ist es daher möglich, daß Abneigung gegen
Heftigkeiten und verantwortliches Bewußtsein es zu-
stande bringen, den Brand zu dämpfen, ehe er die
Pulverkammern zündet, und es wäre Vermessenheit,
die furchtbare Klärung herbeizuwünschen. Aber
dieser Friede ist kraftlos, solange England es ver-
schmäht, uns beide Hände zu reichen, solange es die
Rechte bietet und die Linke versteckt. Immer wie-
der wird der Schrecken die beiden Völker aufstören,
die zur Freundschaft bestimmt sind, die sich unend-
lich vieles zu sagen, mitzuteilen und zu leisten haben;
mit jedem Jahre wird die Entfremdung vorschreiten
und das doppelte Schuldbuch anwachsen.
Heute, man sage hüben und drüben, was man
wolle, klingt noch kein Völkerhaß in Vorwurf und
Abv/eisung hinein. Im Gegenteil: es gibt vielleicht
nicht zwei Völker der Erde, die im vollen Bewußt--
218
sein ihrer Interessengegensätze wechselseitig so
rückhaltlos ihre Tugenden, Kräfte und Mächte
schätzen und verstehen. Nicht an uns liegt es, wenn
das rechte Wort, das Wort des Vertrauens, des Frie-
dens und der Freundschaft, ungesprochen bleibt.
1912
219
POLITISCHE AUSLESE
Vor einigen Jahren wurde bei einem Würden-
träger über die Schwierigkeiten geklagt, oberste
Leiter der deutschen Politik zu finden. Ich nahm
mir die Freiheit, zu sagen : „Deutschland hat neun
aktive Botschafter. Wie kommt es, daß nicht ein
jeder dieser ausgesuchtesten Männer des Landes
geeignet ist, in jedem Augenblicke die gesamte Ver-
antwortung zu übernehmen?", und man gestand,
daß sachliche Gründe hierfür nicht zu finden
seien.
Die Durchschnittsleistung unsrer auswärtigen
Politiker ist hoch einzuschätzen, wie die Durch-
schnittsleistung unseres Beamtenstandes überhaupt;
sie hat sich im Laufe des letzten Jahrhundertes eher
gehoben als gesenkt: Geschäftskenntnis, technische
Mittel, Sprachenkunde, Verkehrsformen wurden
vervollkommnet. Dagegen hat seit Friedrich dem
Großen Preußen nicht vermocht, mehr als einen
überragenden diplomatischen Geist hervorzu-
bringen.
Hervorzubringen? Das ist eben die Frage. Viel-
leicht nur aufzufinden. Auch Bismarck wurde nur
durch Zufall, nicht auf dem Wege des Beamtenauf-
stiegs, gefunden.
Eine Nation wie Preußen-Deutschland mit 65
Millionen Menschen höchster Zivilisation hat aber
den Anspruch, seine obersten Verantwortungen
jederzeit von den höchsten Talenten getragen zu
sehen; mehr noch: diese Posten mit doppelter und
dreifacher Reserve gedeckt zu wissen. England hat
diese Besetzung ein Jahrhundert hindurch mühelos
aufgebracht. Frankreich seit 1870 mit geringen
Unterbrechungen, Österreich in neuerer Zeit aus-
reichend. Preußen fand nur einen überlegenen
223
Mann zu seiner diplomatischen Verteidigung, vor
und nach ihm keinen.
Liegt es am Rohmaterial der Menschen? Ge-
schäfte sind von Geschäften nicht verschieden. Die
amerikanische Schiffahrt oder Eisenindustrie im
Schach zu halten, ist keine andersgeartete Aufgabe,
als einen Bahnbau in der Türkei oder einen Zollver-
trag durchzusetzen. Syndikatskämpfe und Bündnis-
verhandlungen unterscheiden sich wesentlich im
Gegenstande, weniger in der Methode. Seit zwan-
zig Jahren ist Deutschland unbestritten das führende
Land Europas in wirtschaftlicher Verwaltung und
Geschäftsführung. Nahezu zehntausend Unter-
nehmungen sind neu entstanden und haben ein
Armeekorps von Leitern verlangt und gefunden.
Starke geschäftliche Kapazitäten hat Frankreich,
Amerika, Italien und Rußland von uns bezogen.
Eine bemerkenswerte Anzahl höchster Talente
leitet unsere Wirtschaft. Aber das Auswärtige Amt
konnte sich nicht entsprechend mit Potenz be-
reichern.
Liegt es somit nicht am Rohmaterial, sondern an
der Auswahl, so ist zunächst zu prüfen, wieweit der
preußische Aristokratismus die Schuld trägt.
Für die höhere Beamtenlaufbahn kommt in
Preußen im wesentlichen der echte und der imi-
tierte Landesadel in Betracht. Unter dem imi-
tierten Adel verstehe ich die Bourgeois-gentil-
hommes zweiter Generation, die heute in Deutsch-
land zahlreich die praktischen Eigenschaften ihrer
Väter gegen aristokratische Allüren und Auffas-
sungen einzutauschen bestrebt sind, ein seltsames
Produkt jungen Reichtums, das aus dieser Betrach-
tung ausgeschaltet werden kann.
224
Der preußische Adel bildet durch Pflichtbewußt-
sein, Ehrenhaftigkeit, Mut, Treue und Opferbereit-
schaft die vollendetste Militär- und Beamtenhier-
archie, die wir kennen. Seine Stärke beruht aber auf
Tradition, nicht auf Anpassung; auf pflicht mäßigem
Ermessen, nicht auf Erfindung; auf Autorität,
nicht auf Geschicklichkeit und Schlagfertigkeit;
auf Selbstbewußtsein, nicht auf Konzilianz; auf
Beobachtung, nicht auf Phantasie. Zum Staats-
mann gehört aber die Mischung beider Polaritäten :
er muß, wie Napoleon und Bismarck, halb Römer,
halb Levantiner, halb Baidur, halb Loke sein.
Die aristokratische Einseitigkeit der Auswahl ver-
kleinert nicht nur den Kreis der Verfügbarkeit im
Verhältnis von hundert zu einem und verengert so-
mit das diplomatische Deutschland bis unterhalb
der Grenzen Dänemarks oder der Schweiz: sie gibt
vor allem den intellektuellen Durchschnitt ver-
ändert und unvollkommen wieder.
Hierin liegt ein Rückschritt gegen die Zeit vor
hundert Jahren. Damals war das Bürgertum un-
entwickelt, der Adel allein geschäftsfähig, das
Ausland in gleicher Lage, die Aufgabe einfach.
Heute ist das Bürgertum Träger einer ungeheuren
geschäftlichen Intelligenz, der Adel überflügelt,
das Ausland von seinen stärksten Geistern ver-
teidigt, die Weltlage von äußerster Verworren-
heit. Dennoch sind die Einrichtungen die gleichen
geblieben.
Ich lasse es dahingestellt, ob trotz des schweren
Handicaps, das der Aristokratismus uns auferlegt,
die Möglichkeit besteht, auch heute noch an Zahl
und Stärke ausreichende Talente vor die Front zu
bringen. Soll die Möglichkeit aber verwirklicht
werden, so bedarf es der vollendetsten, selbsttätig
wirkenden Auslese.
Unter dieser Bezeichnung verstehe ich Prinzipien,
die, unabhängig von zeitweiliger Geschicklichkeit
einzelner Menschen, es dauernd und grundsätzlich
erzwingen, daß aus einem gegebenen Kreise von
Personen die geeignetsten erkannt, geprüft und der
Verantwortung zugeführt werden.
Unser Wirtschaftsleben kennt diese selbsttätige
Auslese in ihrer schroffsten Form : Zugang für jeden;
Ausschaltung des Ungeeigneten nach alleiniger
Maßgabe des Erfolges.
Alle parlamentarisch regierten Länder kennen und
üben sie, bewußt und unbewußt: Aussiebung der
Bewerber durch Volkswahl, Beobachtung ihrer
Leistungen als Redner, Debatter, Kommissions-
berater, Probezeit als zweite Kabinettsmitglieder.
Aufs höchste entwickelt findet sich naturgemäß
die Auslese in England: schon die Mitschüler des
Kolleges und der Universität glauben, an Begabung,
Gewandtheit, Autorität und körperlicher Leistung
den künftigen Premier zu erkennen. Ein Kabinetts-
mitglied hebt den Vielversprechenden aus seiner
Laufbahn, setzt ihn neben sich als Privatsekretär,
sendet ihn ins Land, sieht ihn als Abgeordneten
heimkehren, schult und prüft ihn, betraut ihn mit
Vertretung und Nachfolge. Denn die Partei trägt
die Verantwortung für ihre Ideen und für ihren
Nachwuchs, sie schuldet dem Lande, was sie von ihm
empfangen hat, und arbeitet nicht für den Tag,
sondern für Geschlechter.
In Preußen-Deutschland sind selbst die Anfänge
einer selbsttätigen Auslese unbekannt. Die Parla-
mente können sie nicht bieten: träten selbst regie-
226
rungsfähige Elemente dort zu Tage, es wäre ver-
gebens, denn die antikonstitutionelle Praxis ver-
bietet, Parlamentarier zur Regierung aufzurufen.
Rückwirkend aber macht eben diese Praxis unsere
Parlamente unfruchtbar an Talenten und Ideen:
denn welcher Mensch, der Einzelverantwortung
erstrebt und erträgt, sollte es sich genügen lassen,
Wahlreden, Kommissionsreden und Plenarreden zu
halten, in der höchsten Hoffnung, das eine oder
andere Mal in der Mehrheit zu bleiben ? Pragma-
tische Politik treiben bei uns nur die Konservativen ;
sie verteidigen Besitzrechte und wirken auf den
Staat von zwei Seiten ein, der parlamentarischen
und der gouvernementalen ; die übrigen boxen blind.
Es ist ein Irrtum, wenn man annimmt, unser Partei-
wesen lasse eine parlamentarische Verantwortung
nicht zu: umgekehrt, ein Parlament ohne Regie-
rungsverantwortlichkeit wird weder Männer und
Ideen produzieren, noch eine zeitlose, der Partei-
enge enthobene Verantwortung begreifen lernen.
Auslese kann nur wirken, wenn sie von unten
herauf beginnt. Unter einem Dutzend vorhandener
Regierungspräsidenten, Ministerialdirektoren und
Gesandten den geeignetsten Mann herauszufinden,
ist eine leichte Aufgabe (womit nicht gesagt ist, daß
sie immer gelöst wird) : not tut es, den richtigen
Regierungspräsidenten, Ministerialdirektor und
Landrat zu schaffen. Deshalb ist es eine be-
denkliche und meistenteils nutzlose Maßregel, zur
gelegentlichen Auffrischung des Bestandes Außen-
stehende, Militärs, Kaufleute, Industrielle herbeizu-
ziehen. Der Mann, der sich suchen und finden läßt,
ist in der Regel ein Unbefriedigter oder Unbe-
schäftigter; er bleibt in gewissem Sinne Dilettant
II» 227
und Außensteher, seine guten Eigenschaften reiben
sich auf, seine schlechten kompromittieren, und die
unerfreuten Berufsgenossen atmen auf, wenn das
heimatlose Meteor explodiert. Das gewaltsame
Experiment dieser Auffrischung erinnert an Jagd-
vorgänge: mit der Eisenbahn verfrachtet wird ein
Eber in das fürstliche Gehege gesetzt, eine Hatz,
aber keine Verbesserung des Bestandes.
Wenn es also auf die Einleitung des Selektions-
vorganges ankommt: wo hegt diese Urwahl in
Preußen ? Sie liegt in den Händen des preußischen
Geheimrates und heißt „Qualifikation zum Regie-
rungsassessor".
Ich habe nicht die Absicht, mich über diesen
Kernpunkt, den eigentlichen Keimvorgang des
Regierungsleibes, den wichtigsten und selten berühr-
ten Urprozeß unserer verwaltungspolitischen Exi-
stenz näher auszusprechen. Es genügt zu betonen,
daß es sich nicht um einen Vorgang von mecha-
nischer Zuverlässigkeit, mit selbsttätiger Sicherung,
sondern um eine Beamtenfunktion handelt, die in
aller Stille, je nachdem, gut oder schlecht, wie es
Menschenwerk mit sich bringt, gedeiht. Ausge-
schaltet mag die Frage bleiben, ob und wie weit bei
dieser Methode Vorteile des äußeren Menschen, Zu-
gehörigkeiten zu Verbänden und Verbindungen, Ex-
zellenzen als Paten, Hofdamen als Muhmen, in Wett-
bewerb mit ideellen Eigenschaften treten können.
Entscheidend wirkt, daß hier persönliches Er-
messen an die Stelle objektiver Einrichtungen tritt.
Eindrücke, Auskünfte und Akten treten an die
Stelle von Proben, Leistungen und Erfolgen. Wird
somit jemals die Frage zu stellen sein: Warum fehlt
es uns an Diplomaten und Staatsmännern ? so muß
228
die Antwort lauten: weil der Geheimrat nicht
allwissend ist.
Daß auch in Preußen amtliche Auslese möglich
ist, beweist die Armee. Zu ihrem Berufsdienst wird
jeder zugelassen, der gebildet, ehrbarer Herkunft,
kein Krüppel und kein Jude ist. Die Siebmaschen
sind weit, der Zufluß beträchtlich. Aus Hunderten
werden die Brauchbarsten erprobt, der Akademie
zugewiesen, geprüft und beobachtet. Die Besten
im Dienst und Hörsaal ergeben die besten Führer.
Deshalb ist unsere Heeresleitung in ihrer Gesamtheit
vorbildlich und unerreicht; wie weit die objektive
Auslese bei der Besetzung einzelner hoher Posten
anderen Grundsätzen weicht, steht hier nicht zur
Erörterung.
Nun könnte man fragen: was schadet das alles?
Deutschland ist ein gesundes Land. Ist nicht bisher
alles sehr gut gegangen ?
Zunächst ist seit Bismarcks Tagen nicht alles
sehr gut gegangen. Von Jahr zu Jahr begreifen wir
mehr, wieviel von dem, was man vor einem Men-
schenalter Preußen nannte, Bismarck hieß. Seither
sind wir, die volkreichste und wohlhabendste Kul-
turmacht Europas, von dem Sitz unbestrittener
Hegemonie herabgestiegen auf die Ebene einer sehr
respektablen, jedoch nicht überragenden Bündnis-
macht. Und dies bei einem in der Geschichte der
Welt unerhörten Verteidigungsaufwand von nahezu
zwei Milliarden.
Sodann gibt es wohl kaum ein zweites Land, in
dem jede Vakanz leitender Stellen so. peinliche,
schmerzhafte Verlegenheiten bereitet, wie bei uns.
Schon sind die letzten Kapitäne aus Bismarcks
alter Garde aufgeboten; nun findet sich kein, aber
229
auch kein einziger Staatsmann in der Reserve, dem
eine große Partei, geschweige das ganze Volk die
Geschäfte anzuvertrauen wünschte. Mit Aus-
nahme des jeweiligen Kanzlers erregt kein Politiker
außerhalb seiner Gruppe oder Umgebung Interesse,
am meisten vielleicht noch der Berliner Polizeipräsi-
dent, weil er kurze Sätze macht. Wo leitende
Männer fehlen, da fehlen aber auch leitende Ideen :
und so ist im Gegensatz zu den übrigen Mächten,
die mit gewaltigen Schritten ausgreifen, unsre
Lage nach innen und außen im bildlichen und wört-
lichen Sinne defensiv.
Wir leben nicht in einer Zeit der Eroberung,
sondern des Wettbewerbes. Alle Mitbewerber
stellen uns ihre bewährtesten Talente, ihre er-
fahrensten Kämpfer gegenüber. Können auch wir
unsere stärksten geistigen Potenzen in Bewegung
setzen, so haben wir keinen Kampf zu fürchten;
können wir es nicht, so besteht ein Schwachpunkt
von jener grundsätzlichen Art, welche schon manch-
mal Schicksale besiegelt hat.
Des ferneren könnte man fragen: Lassen sich
nicht „Maßnahmen treffen", um mit geringen
Mitteln die preußische Praxis echten Selektions-
methoden anzupassen ? Schwerlich. Es gibt zu-
weilen unscheinbare Symptome, die äußerer Be-
handlung leicht zugänglich scheinen und dennoch
nur durch tiefgreifende Behandlung des Organis-
mus sich heilen lassen, weil sie die innersten Wurzeln
des Körpers angreifen. Wollen wir fernerhin mit
einigen östlichen Staaten die überlebende Gruppe
halbkonstitutioneller Länder bilden, so müssen wir
den Mut haben, mit den Bequemlichkeiten dieses
Systems auch seine Gefahren zu verantworten.
230
Es ist leicht zu verstehen, daß Preußen
selten und niemals freiwillig seine Grund-
sätze ändert. Die Vorzüglichkeit derDurch-
schnittsleistung ist Ursache dieser Behar-
rung slust. Es geht wie in eine mehr würdigen
Handelshause: Prinzipal und Angestellte
tun vor Gott und Menschen ihre Pflicht,
sind fleißiger und solider als die Konkurrenz,
haben ihr gutes Auskommen und wollen
nichts davon hören, daß durch die Welt
ein frivoler Ruf geht, der Rohrzucker werde
durch das elende Kunstprodukt der Rübe
ersetzt.
Es kommt hinzu, daß in Deutschland seit
fünfundzwanzig Jahren die Geschäfte gut
gehen. Kein Mensch will beim Geldver-
dienen gestört sein; noch zehn Jahre, so ist
er reich, solange wird es halten, alles andere
später. Politik? Mögen Fachleute und Ar-
beitslose sich drumkümmern, wennnurdie
Konjunktur bestehen bleibt. Krieg? Wir
haben vierzig Jahre Frieden gehabt und
wollen keine Abenteuer. Verfassung? Die-
jenige ist die beste, welche die Geschäfte
nicht gefährdet, gute Polizei übt,*die Ar-
beiter im Zaum hält und wohlhabenden
Bürgern verdiente Ehren zugänglich macht.
Kommt es einmal anders, verflauen die Geschäfte,
wachsen die Lasten, treten politische Rückschläge
ein, so wird auch in Preußen der Bürger kritisch,
denn er steht auf der Seite des Erfolges. Heute
fürchtet er Gott und den Sozialismus, über Nacht
lernt er andere Ängste.
Nicht von der Arbeiterschaft drohen uns
231
Gefahren, denn dem heutigen Sozialismus
fehlt die Kraft positiver Ideen. Zwei andere
AngriffskräftewerdendiepreußischeStaats-
auffassung erschüttern: Mangel an führen-
den Geistern und ungleiche Verteilung der
Lasten; beide entspringend aus dem einst-
mals so bewährten Aristokratismus der Ver-
waltung. Die Zeitläufte ähneln in seltsamer
Weise der Epoche Friedrich Wilhelms IL
Möge es diesmal keiner schweren Erschütte-
rungen bedürfen, um das innere Gleichge-
wicht herbeizuführen.
1912
232
PARLAMENTARISMUS
Die Grenzscheide zwischen zulässiger und unzu-
lässiger Gesinnung liegt in Preußen beim Parla-
mentarismus.
Es ist gestattet, Aufgeklärtheit, ja Vorurteils-
losigkeit zur Schau zu tragen und über Einrich-
tungen und Personen frei zu urteilen ; jedoch beim
Parlamentarismus wird zum Sammeln geblasen.
Wer dann nicht zum Bestehenden einschwenkt,
bleibt endgültig draußen, er ist nicht viel besser
als ein Freihändler, Republikaner, Sozialdemokrat.
Eine Grenze gibt es und muß es geben.
Wer sich überhaupt auf weitere Erörterung ein-
läßt, sagt zweierlei: erstens „Parlamentarismus ist
möglich in einem Lande mit nur zwei Parteien",
zweitens „sehen Sie unseren Reichstag an".
Wird das Spiel mit der Frage fortgesetzt : „Glauben
Sie nach Ihrer inneren Überzeugung, daß wir noch
in fünfzig Jahren unparlamentarisch regiert wer-
den ?" so entsteht vielfach ein sichtbarer Gewissens-
konflikt.
Regieren hieß vor hundert Jahren verwalten;
das ist: eine meinungslose und bildungslose Menge
mit oder gegen ihren Willen befrieden, schlichten,
lenken, erziehen und schützen. Heute heißt re-
gieren: Gesetze durchführen, Ziele schaffen und
Geschäfte machen.
In jenen unkomplizierten Zeiten der verteidigten
Landwirtschaft war zum Regieren erforderlich Ge-
sinnung und überlieferte Praxis, heute bedarf es
daneben eines durchdringenden Systems organi-
sierter wirtschaftlicher, technischer und sozialer
Kenntnis und entschiedener Geschäftstüchtigkeit.
Damals waren die Oberschichten der führenden
europäischen Staaten intellektuell ziemlich ausge-
23s
glichen; es entschied somit der Wohlstand des
Volkes und die Gewissenhaftigkeit der Führer.
Im Heimatbezirk hat Friedrich, im Weltbezirk
Napoleon dies Gleichgewichtssystem durchbrochen
und die Gewalt der Begabung an die Stelle der
Tüchtigkeit gesetzt. Seitdem liegt der Erfolg der
Regierung auf der Seite der stärksten Geister, somit,
unter Voraussetzung gleicher Nationalbegabung
und gleicher physischer Grundlage, bei denjenigen
Staaten, die selbsttätig 'ihre wirksamsten geistigen
Potenzen in die Verwaltungs- und Verteidigungs-
linie berufen.
Den Beweis liefern die letzten Jahrzehnte der
französischen Politik. Ein Staat, niedergeworfen,
zerrissen, entblutet, zittert in den siebziger Jahren
vor erneutem Angriff der Deutschen und beschwört
durch seinen Botschafter den Kaiser um Frieden.
Wirtschaft und Volksvermehrung dieses Staates
stocken, unerhörte Skandale erschüttern das Ver-
trauen zur Industrie, zur Regierung und zum Heer,
Advokaten, Journalisten und Generale teilen sich
in die Herrschaft, die alle elf Monate wechselt, die
Kirche wird vertrieben, der Sozialismus und Syndi-
kalismus bemächtigt sich der Kommunen und zeit-
weise der Ministerien. Und währenddessen be-
festigt dieses Land seine Herrschaft in Algier und
seine Vormacht in Syrien, gewinnt Madagaskar,
Tunis, Cochinchina, Marokko, erwirbt die beiden
mächtigsten Bündnisse zu Wasser und zu Lande,
entscheidet den Kongreß von Algeciras und übt
auf die Entschlüsse Europas durch seinen Spruch
und durch seine Legationen den gleichen, zeit-
weilig größeren Einfluß als irgendeiner der Nach-
barstaaten.
236
Deutschland hingegen beginnt zur gleichen Zeit
mit dem Besitz der kontinentalen Hegemonie, bleibt
von inneren Stürmen verschont, erringt durch
Bürgerkraft die zweite Stelle der Weltv^irtschaft,
überflügelt den Wohlstand Frankreichs um fast das
doppelte, verbraucht an öffentlichen Umlagen all-
jährlich das zweieinhalbfache der französischen
Kriegsentschädigung — und bleibt ausgeschlossen
von zwei Weltteilungen, zuwachslos außer durch
private Tatkraft, und sieht seinen Einfluß bis an
die Grenze der Mächte ersten Ranges sinken.
Vor Jahresfrist habe ich an dieser Stelle
vom Wesen der selbsttätigen Selektion ge-
sprochen, einem Begriffe, den Preußen-
Deutschland nicht kennt, obwohl er in allen
führendenStaaten, in jedemaufseine eigene
Weise, längst zurunausgesprochenen, selbst-
verständlichen Übung geworden ist. Dieser
Übung verdankt Frankreich, das kräfte-
ärmste Land, ein ständiges Arsenal von
führungsgewohnten und führungsbereiten
Menschen. Hier wird ein Organisator ge-
braucht, hier ein Parlamentsminister, hier
ein Kenner der Flotte, ein Russenfreund,
ein Finanzpraktiker, ein Budgetkünstler,
ein Aller weit s mensch, einVertrauensmann,
ein Idealist: die Jahrgangslisten der abge-
dankten Ministerien sind mit jedem Stoff
versehen. Bei uns: vor der Besetzung des
Postens Verzweiflung, nach der Besetzung
Enttäuschung; „wie kommt es nur, daß wir
so wenige leitende Männer haben?" Dazu
die altfränkische Fiktion, daß jeder Verab-
schiedete als ein Verungnadeter gilt: unter
237
keinen Umständen darf er wiederkommen.
Unsere Wirtschaft, die keine Anciennität,
keine Standesrechte, keine Examina, wohl
aber die selbstwirkende Auswahl kennt,
deren der Staat entbehrt, findet jahraus,
jahrein führende Kräfte, um die sie die
Welt beneidet; unsere Politik und Regie-
rung findet sie nicht.
Von der Auswahl will ich heute nicht sprechen,
sondern von der Richtung. Wenn zwei Banken,
zwei Industriewerke oder zwei Staaten mit gleichen
Kräften untereinander konkurrieren: welcher von
beiden Organismen wird siegen ? Derjenige, der
die bessere Richtung hat und diese Richtung ein-
hält. Die Überlegenheit im Wettstreit besteht darin,
heute das zu tun, was andere in zehn Jahren tun
werden; sie besteht ferner darin, jedem kleinen,
noch so nebensächlichen Schritt eine Orientierung
zu geben, die dem Endziel um einen Bruchteil
näherführt; sie besteht endlich darin, jedes von
außen hinzutretende Ereignis nach seinem Wert
für das Endziel einzuschätzen und es ihm wenn
möglich dienstbar zu machen.
Hierfür aber ist erforderlich, daß man sein Ziel
oder wenigstens seine Richtung kenne. Selbst eine
schiefe Richtung ist besser als keine. Wenn ich nach
Paris will und nach Metz komme, so ist das besser,
als wenn ich auf der Ringbahn um Berlin kreise oder
^ das Einsteigen vergesse. Politik ohne Richtung
und Ziel ist Opportunismus und Wurstelei;
sie beschränkt sich auf eine verlegene Ab-
wehr und unwilliges Abarbeiten der Tages-
schwierigkeit; sie gleicht der planlosen
Schachführung, die Figur um Figur, Stel-
238
lung um Stellung opfern und schließlich
in verzweifelter Lage unfreiwillig und ver-
hängnisvoll handeln muß. Der konzentrisch
und plansicher verfügende Kämpfer hingegen fühlt
sich beständig von einer fast heiteren, souveränen
und humorvollen Stimmung getragen; er sieht sich
auf unbestrittenem Gebiete tätig, wo jeder mühelose
Schritt eine nur ihm erkennbare Näherung zum
Erfolg bedeutet.
In jedem parlamentarischen Staat ist Träger der
politischen Richtung das Volk, und zwar durch die
sichtbare Vermittlung seiner politischen Parteien.
Das Ich des Volkes ist so wenig eine Einheit wie das
Ich des Menschen; Partei ist der Name seiner poli-
tischen Wunschkomplexe, und die Diagonale der
Kräfteparallelogramme ergibt die Richtung seines
Handelns. Wie alles irdische in übertriebener
Beobachtungsnähe, ist auch diese Richtung geome-
trisch nicht ganz rein und stetig; aber wie alles
organisch Erzeugte ist sie notwendig, organisch,
angepaßt und sicher, und aller Willkür und Besser-
wisserei gegenüber von natürlicher Unangreifbar-
keit und Überlegenheit.
Die Wissenschaft beginnt heute zu erkennen, daß
es nicht ihres Amtes und ihrer Fähigkeit ist, Ziele
zu setzen. Sie kann Zusammenhänge aufdecken,
Ursachen ermitteln und Folgen voraussagen, sie
kann mit manchem ärmlichen Wenn und Aber er-
klären : Wenn du so und so handelst, geschieht das
und das; aber was im letzten Sinne geschehen soll
und geschehen muß, was für den Einzelnen, für das
Volk, für die Menschheit das Ziel bedeutet, was
gut und schlecht, heilig und profan, hoffenswert
und furchtbar ist, das überläßt sie schweigend dem
239
Gericht der menschlichen Wertung, der Weltan-
schauung, des Glaubens ; sie appelliert an den höheren
Areopag, der in den Herzen aller Einzelnen und
somit im Herzen der Gemeinschaft tagt. Fehlt die
Zuversicht, daß Menschen und Völkern ein Sinn ein-
gepflanzt sei, der sie von innen zur Erfüllung ihres
Daseins führt, so bleibt alles Politisieren nur Kampf
mit Tagessorgen, Nützlichkeitsdienst, Polizeiwerk.
Besteht sie, so muß bei gebildeten Völkern im Kampf
der großen Meinungsgruppen das Schauspiel des
Kollektivgeistes erblickt werden, der mit sich selber
ringt und der in seinem Lebensstreit zeugend wirkt.
Verläuft der Kampf ungestört, geordnet zwar,
doch sich selbst überlassen, so wird durch seine
Langatmigkeit und Ergiebigkeit die Gefahr der Ver-
wechslung mit dem Gekräusel der öffentlichen
Tagesmeinung ausgeschlossen. In keinem Lande so
selten wie in England, in kaum einem so häufig wie
bei uns entstehen grundlegende Gesetze und Maß-
nahmen als Ausfluß einer Stimmung, einer Kon-
stellation, einer Verlegenheit.
Bleiben die Grundverhältnisse eines parlamen-
tarischen Staatswesens stetig, so wird die Richtungs-
diagonale der Parteikräfte jahrzehntelang in nahezu
gerader Linie verlaufen und der Politik eine unge-
heure Stoßkraft verleihen; ändern sich die Bedin-
gungen, so wird die Einbiegung der politischen
Richtung langsam und ohne gewaltsame Bremsung
erfolgen. Denn die Komponenten der Richtkräfte,
die Parteien, sind in sich wiederum organische
Geistesgebilde, freie Nationen im kleinen, in denen
abermals unter Kämpfen und dennoch unbeeinflußt,
objektive Willenskraft sich entbindet; sie bleiben
Träger eines aus der Zusammenarbeit der Genera-
240
tionen herrührenden Urvermächtnisses ; dieses Ver-
mächtnis wird durch Hieb und Stoß nicht gebrochen,
aber es formt sich bildsam unter dem Druck lang-
anhaltender Kräfte.
Nun könnte man einwenden, daß auch in halb-
parlamentarischen Ländern politische Parteien be-
stehen: warum sollten sie nicht Träger beharrlicher
und wirksamer Richtkräfte und positiver Ziele sein ?
Nichtregierende, lediglich überwachende
und gesetzgebende Parlamente sind nicht
produktiv; denn kein natürlicher Organis-
mus leistet mehr als man von ihm verlangt
oder mehr als er verwerten kann. Sie sind
nicht produktiv, weil es ihnen an Interesse,
an Kenntnis des Sachverhalts und an Ver-
antwortung fehlt.
An Interesse: denn was könnte es ihnen
nützen, Ziele zu beschließen, deren Erreich-
barkeit nicht vom Entschluß, sondern von
der großen und kleinen Regierungsarbeit
jedes laufenden Tages abhängt?
An Kenntnis des Sachverhalts: denn wer
ein Geschäft betreiben will, m.uß zu jeder
Stunde die volle Nachricht über den Stand
der Dinge haben, die .ihn betreffen. Keine
noch so eingehende und noch so vertrauliche
Mitteilung an eine Kommission kann den
dauernden Einblick in die Geschäfte er-
setzen. Wer ihn besitzt, kann handeln und
vorschlagen, wer ihn entbehrt, dem bleibt
das Nachsehen und die Kritik.
An Verantwortung: in Frankreich oder
England muß jede Partei täglich vorbereitet
sein, die Regierung zu übernehmen. Sie
I. i6
241
muß brauchbare Menschen und durchführ-
bare Programme bereit halten. Sie darf
nichts Unentbehrliches verweigern, nichts
Unerreichbares fordern. Sie muß darauf
gefaßt sein, die Probe aufs Exempel zu ma-
chen. Sie kann der herrschenden Partei als
Feind gegenüberstehen; der Regierungsge-
walt selbst und dem Lande kann sie nicht
feindlich sein. Regierende Parlamente sind
Versammlungen von verantwortlichen In-
teressenten; kontrollierende Parlamente
ähneln Gläubigerversammlungen eines
schwer zu fassenden Gemeinschuidners.
Daher bewegen sich die p oliti sehe n
Kämpfe halbparlamentarischer Länder vor-
wiegend um den einen Ausgleich örtlicher,
beruflicher, ständischer und religionsge-
meinschaftlicher Interessen, das heißt, um.
innere Reibung, nicht um gemeinsamen
Fortschritt. DieFragen der äußerenPolitik,
der Kolonisation, der Kultur, der Gemein-
wirtschaft werden zu Nebensachen, zuGeld-
fragen, manchmal zu Tauschhandelsgütern.
Sind die Halbparlamente unfruchtbar, so
sind es um so mehr ihreParteien. InDeutsch-
land kann das Zentrum oder die Volkspartei
zum Kolonial- oder Verteidigungswesen
jede beliebige Stellung nehmen, ohne durch
die Kritik der Parteigenossen vernichtet zu
werden; bewilligt man hier eine Ordensnie-
derlassung, dort ein Vereinsgesetz, so läßt
sich über manches andre reden.
Naturgemäß sinkt mit dem Anteil der
Nation der Wert der Erörterungen und das
242
DuTchschnittsmaß der Landesvertreter.
Vorwiegend kritische, dem Interessenaus-
gleich dienende Institutionen bedürfen
nicht der schöpferischen Ideen, und so
wenden sich produktivere Geister frucht-
bareren Arbeiten zu. Nirgends hört man so
häufig von Parlamentsmüdigkeit sprechen
als in Deutschland, das ein eigentliches
Parlament noch nicht kennt. Unfähig, sich
vorzustellen, was ein echtes Parlament
könnte und sollte, empfinden viele das
höchste Vorrecht eines Volkes, so wie es
heute zutage tritt, als eine Last.
Stetigkeit der Politik, Richtlinien des Handelns,
endgültige Ziele sind von unverantwortlichen
Parteien und Halbparlamenten nicht zu verlangen,
die ihr Höchstes leisten, wenn sie innere Spannungen
ausgleichen und gutwilliger, als man erwarten
könnte, an vorgelegten gemeinsamen Aufgaben
mitwirken. Darf nun diese wichtigste, leider
protestierte Forderung an die Ministerien giriert
werden ?
Die Minister halbparlamentarischer Staaten be-
finden sich in einer seltsamen Lage, deren Konflikte
bisweilen eine Neigung zur Komik zeigen. Sie
sind dem Namen und der Sache nach Diener des
Monarchen und haben unter pf licht mäßiger Ver-
antwortung seine Befehle auszuführen. Doch jede
Ausführung erfordert Mittel, und um Mittel zu
schaffen, bedarf es des Parlaments. Indem nun
neben der Ungnade des Monarchen der Widerstand
des Parlaments droht, werden sie in Wirklichkeit
zu Dienern zweier Herren, und es braucht ein fort-
laufendes Paktieren mit Parteien und Kommis-
16*
H3
sionen, um bald mit dem einköpfigen bald mit dem
vielköpfigen fertig zu werden.
Dies System der täglichen Reibungen fördert nicht
den Drang zu fernen, außerhalb der Jahresaufgabe
liegenden Zielen. Noch weniger fördert ihn die
ressortmäßige Teilung der Verantwortlichkeit, und
schließlich wird er fast endgültig aufgehoben durch
die Kürze der Amtsdauer.
Das ministerielle Dasein währt wenige Jahre.
Ist in parlamentarischen Staaten, abgesehen von der
Hoffnung auf eigene Wiederkehr, die Sicherheit ~
gegeben, daß jede Initiative, Vorarbeit und einge-
leitete Aktion eines Staatsleiters von der Partei
wieder aufgenommen werden wird, so muß der
halbparlamentarische Minister damit rechnen, daß
seine weitreichenden Gedanken vom Nachfolger
nicht geteilt, möglicherweise bekämpft werden,
daß mühsame Vorarbeiten die Sache nicht nur nicht
fördern, sondern vielleicht vernichten. Es gehört
mehr als normaler Optimismus dazu, um unter
solchen Bedingungen nach einem schwerbelasteten
Tagewerk den Zielen einer fernen Zukunft nachzu-
hängen, und es bedeutet eine blühende Utopie, in
den Ministerialinstanzen die Schöpfungsstätte poli-
tischer Ideen zu erblicken.
So wird die Verantwortung für die Stetigkeit der
Politik, für Richtung und Ziel der Krone zuge-
schoben. Warum auch nicht ? Hat sie nicht bis
tief ins neunzehnte Jahrhundert hinein diese und
schwerere Verantwortung getragen ?
Die Aufklärungszeit fand vor : zersplitterte Terri-
torien, verkümmertes Landvolk, Söldnerheere, unzu-
längliche Justiz und Verwaltung, Mangel an Ver-
kehr, Technik und Gewerbe. Die einfache Sorge
244
des Hausvaters, auf ein Staatswesen übertragen,
mußte aus dem Vergleich mit andern Ländern,
früheren Zeiten, aus dem nur von höchster Warte
möglichen Überblick über die Ereignisse, aus echtem
Gefühl für Billigkeit und Recht, Aufgaben und
Ziele finden, die für Menschenalter ausreichten.
Unsre Zeit wirkt ohne Präzedenzien in tausend-
fältiger Verwicklung. Der Überblick über ein
winziges Gebiet des Lebens, etwa das Versicherungs-
wesen, erfordert mehr Kenntnis, Arbeit, Rech-
nung und Statistik als der Staatshaushalt vor hun-
dert Jahren. Wissen, Technik, Wirtschaft ist Ge-
meingut; das Vorrecht der Warte testeht nicht,
und selbst die geniale Intuition vermag nicht mit
Sicherheit auch nur die Entwicklung eines einzigen
Lebenszweiges auch nur auf ein Jahrzehnt hinaus
zu überblicken.
Eine vermessene Zumutung an Menschenkraft
würde es bedeuten, wollte man auf den Monarchen
und sein Haus unter Verleihung sakraler Unfehlbar-
keit die Verantwortung für Schicksal und Zukunft
aller Gebiete der inneren und äußeren Existenz
seines Volkes bürden. Diese Last aber wäre um so
schwerer, als das halbparlamentarische System die
verhängnisvolle Neigung zeigt, dem Monarchen ein
heiliges Gut zu gefährden: seine Unbefangenheit
und Unparteilichkeit. Denn dieses System muß
allmählich in jedem Herrscherhause eine Vorstel-
lung erwecken, die in parlamentarischen Staaten
unbekannt ist, daß nämlich die wachsende Selbst-
verwaltung des Volkes, wie die unübersehbare Viel-
fältigkeit des öffentlichen Lebens sie bringt, den
Rechten der Krone Abbruch tue, daß somit die
Krone gezwungen sei, dauernd in einer Stellung
der Verteidigung, ja selbst des Kampfes, der Volks-
mehrheit gegenüber sich zu bewegen. Indem sie
nun in dieser Stellung nach verbündeten Kräften
ausblickt, bietet sich naturgemäß der angesessene
Adel dar, der durch Jahrhunderte in Gefolgschafts-
treue erwachsen, im Vertrauen auf die Fürsorge der
Lehnsherrschaft und im Gegensatz zu den Standes-
genossen des Auslandes in das Wirtschaftsleben der
neuen Zeit nicht eingetreten ist und somit abermals
sein Schicksal ganz in die Hände der Krone gelegt
hat. Ist es somit menschlich zu verstehen, daß die
Krone ihren landsässigen Adel als eigentliche Leib-
wache im militärischen und staatlichen Dienst vor-
zugsweise verwendet und gegen Wettbewerb schützt
— ein Prinzip, das die selbsttätige Auslese der
geistigen Landeskräfte nahezu aufhebt — , so
wird ein Grundsatz von höchster politischer Trag-
weite dadurch geschaffen, daß der piivilegierte
Stand zugleich die Verkörperung der agrarischen
Wirtschaftskraft und der konservativen Staatsten-
denz bedeutet. In gleichem Maße, wie die Krone
der halbparlamentarischen Staatsform den beson-
deren Schutz und die Garantie dieses Einzelstandes
übernimmt, erwächst die Gefahr, daß sie selbst
Partei werde, und zwar, wie es die Sache mit sich
bringt, herrschende, ja allmächtige Partei.
Hiermit aber ist die richtunggebende Kraft aus
der Eigenbewegung des Volkskörpers genommen und
ganz und gar einem peripheren Willensgebiet anver-
traut ; die Verantwortung für die Richtung wird bei
jeder unvorhergesehenen Erschütterung zur Gefahr.
Wer in ausgesprochen monarchischer Gesinnung
die Stetigkeit der politischen Ordnung erstrebt,
wird daher wünschen, daß nicht eine menschliche
^46
Instanz, und sei sie auch noch so eng mit dem Volks-
geschick verwachsen, die Verantwortung für jede
Einzclrichtung des objektiven Willens trage, son-
dern daß diese Verantwortung durch das einzige,
bisher der Welt bekannte Mittel in die Hände des
schöpferischen Geistes der Nation gelegt werde,
nämlich durch die parlamentarische Regierungsform.
Wer behaupten wollte, daß auch unter dieser
Voraussetzung die Parlamente im Sinne der Pro-
duktivität unzulänglich bleiben oder durch Partei-
zersplitterung an der Arbeit gehemmt werden
würden, dem läge die Beweislast ob, daß germani-
sche Völker unreifer, ungebildeter und unpolitischer
sind als angelsächsische, romanische und südsla-
wische Zeitgenossen. Der Beweis aber würde zer-
splittern an der nachweislichen Tatsache unsrer
wirtschaftlichen, kommunalen, disziplinaren und
theoretischen Überlegenheit über unsere Wettbe-
werber. Noch niemals hat eine Versammlung intel-
ligenter Menschen aus mangelnder Homogenität
versagt, wenn sie zu einer Beschlußfassung durch
Notwendigkeit gezwungen war. Jedes Konklave,
jedes Schwurgericht, jede Stadtverordnetenver-
sammlung und jedes Parlament kommt zu einem
Schluß, zu einer Wahl, einer Verständigung. Das
Menschenmaterial unsrer Parlamente aber wird
sich verwandeln und die wahren Geisteskräfte der
Nation in sich schließen, sobald örtlicher Ehrgeiz,
Redebedürfnis und Freude an Publizität zurück-
treten und nationale Verantwortung allein gefor-
dert und gewährt wird.
Stellt man nun die Frage, ob diese Erwä-
gungen gegenwärtig in Deutschland prak-
tisch sind, soistzuerwidern, siesindesnicht.
H7
Trotz Depression und Geburtenrückgang
ist das deutsche Vo'lk so ausschließlich mit
seiner Wirtschaft beschäftigt, daß es nicht
daran denkt, sich mit seiner politischenZu-
kunft zu befassen. Gelegentliche Enttäu-
schungen lösen die charakteristische Reak-
tion der inneren Teilnahmlosigkeit aus:
Kritik an Personen. Die Schwierigkeit der
Beschaffung verantwortlicher Menschen
wird als selbstverständlich hingenommen.
Das Absinken unserer Machtlage wird be-
stritten; unser vierzigjähriger Verzicht auf
Zuwachs gilt als Friedensliebe. Das sym-
bolische Bild der gesättigten Volksindolenz
spiegelt die Partei des gebildeten Bürger-
tums; sie ist forderungslos geworden, weil
ihre besitzende und kontrollierende Hälfte
dem gesellschaftlichen Aufstieg hingege-
ben, jede Unliebsamkeit scheut. Derliberale
Reichstag, dem sie den Ausschlag schuldet,
hat außer einer wertlosen und schnell be-
reuten Demonstration keine kennzeichnen-
de Spur eines Eigenlebens hinterlassen.
Praktisch ist die Erwägung zu diesem
Zeitpunkt nicht, aber sie wird es werden.
Die Erschütterungen, denen wir entgegen-
gehen, wenn unsre ummauerte Wirtschaft
ihre Einengung zu spüren beginnt, wenn
die Willkür der Lastenverteilung empfun-
den wird, wenn die politische Kräftever-
schiebung die Handlungsinitiative und die
Zeitwahl unsern Gegnern überliefert hat,
diese Erschütterungen werden die öffent-
liche Fragestellung, die heute eine übcr-
^48
wiegend ökonomische ist, wiederum zur
politischen gestalten. Es wird die Wahrheit
wiederum zutage treten, daß esdiehöchste
und reinste Aufgabe des Machthabers ist,
ein rohes Volk gebildet, ein gebildetes Volk
mündig zu machen, und ein neues Stein-
HardenbergschesZeitalterwirddieseWahr-
heit verwirklichen. Wem aber die Kraft des
Reiches und die Erhaltung seiner Autori-
täten am Herzen liegt, der wird wünschen
und hoffen, daß der Satz erkannt werde:
gesicherter im Sturme als das verankerte
Schiff ist jenes, das im Vertrauen auf die
Stärke seiner Flanken furchtlos dem beweg-
ten und dennoch tragenden Element sich
hingibt.
1913
249
DAS EUMENIDENOPFER
Das Deutsche Reich verlangt von seinen Bürgern
eine Milliarde und die Rente von einigen wei-
teren, um seine Rüstungen gegen den Osten und seine
Heermacht gegen den Westen zu stärken. Man
sagt, es gilt ein Schicksal abzuwenden, und erinnert
an den Opferwillen vor hundert Jahren. Vierzehn
Millionen für -Spezialtruppen. schienen vor s^chs
Monaten unerschwinglich; tausend Millionen er-
klären sich selbst. Es ist die Psychologie der General-
versammlungen : Die ärmliche Unterschlagung eines
Kassenboten erregt Stürme; der Verlust des halben
Gesellschaftskapitals begegnet mutvoll gefurchten
Mienen, die sagen: Gottlob, es ist nur die Hälfte.
Die Geldschranktüren knarren; Münzen und
Zettel strömen zum Kassenherzen der Hauptstadt,
und es bleibt kaum die Zeit, zu fragen: Warum
und wieso ?
Das letzte Menschenalter sah in aller Stille und
ohne Erstaunen zwei Welten aufteilen: die afri-
kanische und die islamitische Welt. England nahm
Zypern, Ägypten, Rhodesien, das freie Südafrika
und erhob Anspruch auf das halbe Persien. Frank-
reich erhielt Tunis, Tongking und Marokko. Ruß-
land verlor einen Krieg und gewann dennoch
wachsende Macht in der Mandschurei, Mongolei
und Persien; Japan wurde Großmacht und besetzte
Korea; Italien eroberte Tripolis; die Vereinigten
Staaten legten die Hand auf Kuba, die Philippinen
und Zentralamerika ; Österreich annektierte Bosnien,
die Balkanstaaten teilten sich in die europäische
Türkei.
Neun Zehntel dieser Eroberungen fielen an die
Staaten des französischen Bundes; Deutschland
erhielt durch private Initiative seine Kolonien,
2S3
durch politische und diplomatische Ausnützung
seiner Machtstellung — wenn man von dem Tausch-
objekt Neukamerun schweigen will — nichts.
Nichts. Und doch trat das Deutsche Reich in die
Reihe der kontinentalen Staaten als unbestrittene
Vormacht, als Schiedsrichter und Garant. Es sah
alle seine heutigen Gegner in Kriege und Wirr-
nisse verwickelt und deckte ihre Flanken; seine
Bundesgenossen hat es in Treue verteidigt. Mehr-
mals hat es Frankreich, einmal Rußland Halt ge-
boten; einen Sicherungsvertrag mit Rußland hat es
besessen, ein angebotenes Bündnis mit England zu
Holsteins Zeiten verscherzt. Eine Kriegsmacht
hat es auf die Füße gestellt, wie dieser Planet sie
nie zuvor erblickte, und einen Verteidigungszins
von einunddreiviertel Milliarden aufgebracht,
der nie erhört wurde. Keine Kontinentalmacht
hat die Größe seiner Flotte je erreicht; keine seinen
Wohlstand noch die Zahl seiner zivilisierten Be-
wohner.
Und das Ergebnis ? Nichts. Weniger als nichts :
denn Deutschlands Stimme, vor dreißig Jahren
mächtiger als irgendeine andre in Europa, gilt
heute keinesfalls mehr, eher weniger als Frankreichs,
im Völkerrat sowohl wie an den Höfen der Mächte.
Unsren Ruf des stillsten, treuen und wahrhaften
Volkes wagt man zu bekritteln und uns zu verschreien
als Bluffer und Schaumschläger; unserm Urteil
wird ein militärischer Irrtum zur Last gelegt und
Eilfertigkeit vorgeworfen. Von der Hegemonie sind
wir herabgestiegen und Angriffsziel geworden,
während Frankreich, das geschwächte, entvölkerte,
zerrüttete Land, durch die Politik seiner oft ver-
lachten bürgerlichen Advokaten Besitzungen, Allian-
254
zen, diplomatischen Nachdruck und politische
Aktivität gewonnen hat. Das uns entglittene
Schiedsrichteramt über die Geschicke der alten
Welt aber liegt von neuem in den Händen Englands.
Wir haben nicht das Recht, für den mangelhaften
Nutzeffekt unerhörter Anstrengungen böse Nach-
barn verantwortlich zu machen. Gewiß ist es
schlimmer als schlecht, nämlich unklug, wenn ge-
sättigte Gegner uns jeden Zuwachs, dessen ein
Industriestaat bedarf, mißgönnen; aber Politik be-
steht nicht darin, Unrecht zu leiden ; und so wenig
wie ein Einzelner darf ein Staat sein Mißgeschick
andern zur Last legen. Glück, Leben und Gestalt
schmiedet sich jeder selbst.
Auch genügt es nicht, zu sagen : Wir haben den
Frieden erhalten. Friedfertigkeit ist nur dann ein
politisches Verdienst, wenn sie zugleich das stärkste
Mittel zur Macht ist. Uns war sie ein Mittel zum
Reichtum, nicht zur Macht, und wir wären vielleicht
nicht einmal ärmer, wenn wir, statt zu rüsten, ge-
kämpft hätten. Aber nicht wir haben den Frieden
erhalten; es war unser gutes Recht, ihn zu stören,
und wir haben ihn zweimal gestört: zu Zeiten
Delcasses und vor Agadir. Daß seit vierzig Jahren
zwischen europäischen Kulturnationen kein Krieg
mehr ausgebrochen ist, lag nicht an uns, sondern
an der Indolenz und Verdauungsstimmung der
Völkergesellschaft. Beweis ist : daß seit einem Men-
schenalter, mit Ausnahme der unsren, jede rasche
und kühne Unternehmung, jeder Handstreich
glückte, der vordem zur Entflammung geführt hätte ;
Marokko, Bosnien, Tripolis und die Türkei sind
Zeugen.
In solcher Lage, politisch ausgehungert, mit
^S5
sinkendem Selbstbewußtsein und innerpolitischer
Verstimmung erblicken wir die Umlagerung im
Osten. Die englische VerdrossenKeit ist kaum ge-
mindert, die französische gesteigert, und durch die
Abspaltung der europäischen Türkei werden bisher
gebundene Energien frei, die uns nicht dienen.
Österreichs Stoßkraft ist durch neue Polaritäten
gehemmt, Rußland erstarkt unter gewaltigen wirt-
schaftlichen Reformen. Ein freundlicheres Moment,
die ausgesprochene Abwendung Italiens von Frank-
reich, soll nicht übergangen werden, bedeutet
aber nur so viel, daß im Augenblick der Drei-
bund vorübergehend wieder einmal seinen Namen
verdient.
Der vierte Akt der osmanischen Aufteilung geht
unter erbarmungswürdiger Indolenz der Mächte
zu Ende, und weder wir noch unsre Freunde sind
beteiligt. Wir sind es nicht, denn unsrer politischen
Passivität fehlen Ideen, Anknüpfungspunkte, Eisen
im Feuer. Österreich ist es nicht, denn in einer
seltenen Anwandlung politischer Einseitigkeit hat es
seine Forderung erst nach Beendigung des Konkurses
angemeldet und viel Zeit auf Herrn Konsul Prochas-
ka verwendet. Die europäischen Beratungen gehen
ihren Gang, man hört uns aufmerksam zu, solange
unsre Ansichten von denen der andern nicht allzu-
sehr abweichen, gibt uns in Kleinigkeiten recht und
beschließt, was man will und kann.
Niemals hatte sich bisher der französische mit
dem deutschen Dreibund gemessen; heute blickten
sich beide in die Augen, und siehe da, wir haben die
Sonne gegen uns. Einstweilen nur die Sonne. So
mustern wir denn rasch unsre Kräfte, Menschen
und Mittel und machen die Rechnung; es fehlt eine
256
Milliarde, sie wird ausgeworfen, und die Rechnung
stimmt. Die dunkle Regung absinkenden Lebens-
gefühls ist aus dem Unterbewußtsein des Volkes
in die Denksphäre des Staatshirns gedrungen; der
Augenblick ist günstig, denn die innere Sorge um
die uneinlösbare Besitzsteuer verlangt eine Ab-
lenkung; und so tritt die Maßnahme ans Licht,
die diesmal die streng versöhnlichen Züge des natio-
nalen Opfers trägt.
Das Opfer soll und wird gebracht werden.
Deutschland ist reich und freidenkend genug, um
sich den leisesten Vorwurf der Knauserei zu er-
sparen, wenn es sich um den Schutz seiner Söhne
handelt. Vermessen aber ist es, die bundes-
rätliche Steuervorlage mit den Volksopfern
der Zeit um 1813 zu vergleichen.
Das Herrlichste jener großen Zeit war
nicht das Opfer und nicht der Sieg, sondern
die^Einkehr, die beiden voranschritt. Nie-
mals seit den Prophetentagen des Jesaias
hat ein Volk so tief den Blick ins Innerste
gewandt und in der innersten Tiefe so glü-
hend seineGottheit gesucht. Das zerschmet-
terte Land klagte nicht Schicksal noch Sie-
ger, nicht König, Heer und Waffen an,
sondern erkannte das Unrecht. Der Hörige
wurde frei, der Bürger verantwortlich,
die Söldnertruppe zum Volksheer. Die
Regierung gewann Selbständigkeit, das
Land selbstverwaltetes Leben. Indem man
Universitäten und Akademien stiftete, ent-
fernte man sich scheinbar unendlich weit
von den Wirklichkeiten des Lebens und
bezwang dennoch in transzendenter Größe
I, ir 257
diese Wirklichkeiten so sicher, wie stets
der Geist das Leibliche bezwingt. Da nun
die Zeit des Opfers und der Erhebung kam,
konnte dem tief gereinigten Volke kein
Schicksal und keine Gottheit den Sieg ver-
sagen.
Nicht um Geld und Rüstungen war und
ist es zu tun, wenn ein Schicksal abgewendet
werden soll. MaterielleKräfte rufenGegen-
kräfte wach; die übertriebene Emphase
und Schroffheit des neuen Mittels hat wie
ein Blitzschlag die Vogesen durchwittert,
unddasgeängstete Nachbarvolk drängt sich
inKetten, die ihmdiegeschwächtenGlieder
zerschneiden. Wird die Verlängerung der
Dienstzeit in Frankreich ausnahmsloses Ge-
setz, so ist der Krieg besiegelt, und zwar
als ein Werkzeug in den Händen Englands,
das ihn nicht heute und nicht morgen, doch
zu dem Zeitpunkt entfesselt, der ihm gefallt.
Die doppelteSpannung, die, gefährlicher als
ausgesprochen, zwischen England und uns,
ausgesprochener als gefährlich zwischen
Frankreich und uns bestand, gewinnt jetzt
ihre volleExplosionskraft, verschärft durch
Rußlands Empfindlichkeit, das die Milliar-
densaat im Festungsgürtel längs seiner
Grenzen aufsprießen sieht. Durch jenes
Eumenidenopfer, das uns verkündet wird
nach dem Gesetz hundertjähriger Wieder-
kehr, wird nicht ein Schicksal gewendet,
sondern beschleunigt.
Vielleicht wäre es noch nicht zu spät, die
wahren Lehren jener großen Epoche zu
258
befolgen und das Unrecht abzutun. Das
reifste Unrecht unsrer Zeit aber besteht
darin, daß das fähigste Wirtschaftsvolk
der Erde, das Volk der stärksten Gedanken
und der gewaltigsten Organisationskraft,
nicht zugelassen wird zur Regelung und
Verantwortung seiner Geschicke. Abge-
speist mit kommunaler Verwaltung und
wirtschaftlicher Gesetzgebung, erblickt es
die StaatsgewaltindenHänden einerkleinen
aber mächtigen Klasse, die zugleich das
wichtigste der einzelstaatlichenParlamente
beherrscht; gewöhnt es sich zwangsweise
an den Gedanken, daß eine Regierung nicht
anders als konservativ sein darf.
Dieses doppelte Übel schwächt Preußen-
Deutschland jahraus, jahrein mehr, als
Dutzende von Brigaden gutmachen können.
Den;i die enge Auswahl der Herrenkaste, die dem
alten Kleinstaat genügend Verwaltungstalente lie-
ferte, kann nicht mehr die Zahl hervorragender
Geschäftsleute schaffen, die der gewaltigen Kon-
kurrenz fremder Millionenauslese standhält. Des-
halb leidet die politische Geschäftsführung und
vermindert sich der wirksame Nutzeffekt unsrer
Gesamtmacht derart, daß wir das Handicap nicht
auf die Dauer tragen werden. Nicht die physische
Kraft der Bataillone für sich, sondern diese Kraft,
multipliziert mit dem Maße der Geschäftskur st,
entscheidet über die Weltstellung.
Zugleich aber drängt der mächtige und. eng ver-
kettete Konservatismus der Regierung die Ge-
samtheit aller administrativen Volksinteressen auf
das Gebiet wirtschaftlicher und religiöser Kämpfe.
IT* 259
Hier verschärfen sich die Gegensätze bis zur atomi-
stischen Zerspaltung in Tages-, Geld- und Partei-
konflikte; schon ist der Gedanke kaum mehr faßbar,
daß andere als materielle Interessen das Wesentliche
eines Volkswillens ausmachen, und es wird durch das
gewaltsam zerrüttete Fraktionswesen den Regieren-
den täglich der erwünschte Scheinbeweis erbracht,
daß dieses Volk zur Selbstbestimmung nicht reif sei.
In gleichem Maße aber, wie die materiellen Interessen
zur Herrschaft gelangen und gemäß einer Machtver-
teilung geregelt werden, die nicht dem wahren Auf-
bau des Volkskörpers entspricht, kommt eine un-
gleiche Verteilung der Lasten zustande, die früher
oder später den Bestand des Staates erschüttern muß.
Klassenherrschaft, ausgedrückt durch mangel-
hafte Selektion und schwache Politik; Konservatis-
mus der Führung, ausgedrückt durch Ungleichheit
der Lasten: das ist das doppelte Unrecht und die
doppelte Gefahr unsres Landes. Und das Unrecht
wiegt um so schwerer, als es nicht unbewußt ge-
schieht. Denn von den konservativen Vertretern der
herrschenden Ordnung wissen die meisten und be-
kennen viele, daß ein sittlich und geistig erwachsenes
Volk nicht lange unmündig gehalten werden kann,
daß Naturgesetze stärker sind als Menschenwille und
daß in abermals hundert, ja in fünfzig Jahren keine
der bürgerlichen Schranken mehr bestehen wird.
Aber es genügt ihnen, wenn sie und ihre Kinder als
Herren des Landes geachtet werden, das ihre Väter
— hierin liegt der versöhnlichste Punkt dieser Ein-
seitigkeit — beherrscht und verteidigt haben.
Das Natürliche wäre nun, wenn das Volk
spräche: Wir, deren Arbeitskraft allein,
die Aufwendungen dieser Rüstungszeit
260
ermöglicht, wir sind bereit, dies Opfer
und spätere größere zu tragen. Aber wir
erwarten, daß das Unrecht abgestellt
werde, beginnend zunächst mit der Än-
derung der ungesetzlichen Wahlkreisgeo-
metrie im Reiche und des ungerechten
Wahlgesetzes in Preußen.
Nichts dergleichen wird geschehen. Unser Volk ist
politisch nicht unreif, doch indolent in hohem Maße.
Die Mehrzahl der Menschen, die das Pflaster nord-
deutscher Städte betreten, zählt Leibeigene unter
ihren Vorfahren. Und dieser Tropfen unfreien Blutes,
der noch immer über die Unvcrletzlichkeit des Leibes
staunt, der selbst im Gefolge des Sozialismus sich mit
der Wonne der Disziplin begnügt, entschließt sich
schwer, die praktischen Forderungen des Staats-
bürgertums mit Entschiedenheit zu wollen.
Im mittleren und höheren Bürgerstand aber
steigert sich vielfach die Indolenz zur politischen
Apathie. Die Geschäfte gehen gut, man bereichert
sich. Unermeßliche Stadtgebiete, in denen kein
Haus älter ist als zwanzig Jahre, beherbergen den
neuen Wohlstand. Zehntausend merkantile Gesell-
schaften von weit geringerem Durchschnittsalter
haben Legionen von hochbesoldeten Direktoren,
Prokuristen und Oberbeamten geschaffen. Das
Geschäft blüht, aber nicht von selbst, man hat seine
Sorgen. Soll man sie durch politische Ängste ver-
mehren, die nichts bringen ? Kaum hat man Zeit,
die Vergnügungen zu genießen, die das schöne Geld
beschert. Und ist nicht alles gut gegangen ? Warum
soll es nicht weiter gut gehen ? Noch zehn, noch
zwanzig Jahre, und man ist reich, solange hält es.
Kurz und gut, das Geschäft geht vor.
261
spricht man mit denen, die sich gern als einfluß-
reich und maßgebend bezeichnen lassen, so geben
sie vielfach dem Monarchen die Schuld. Erwidert
man, daß ein wohlmeinender Herrschei als Expo-
nent seines Volkes nur den Gesamtwillen vollzieht
und vollziehen kann, so werden sie nachdenklich
und sagen, es sollte jemand darüber schreiben.
„Und würden Sie einem Aufruf oder einer Petition
beitreten, wenn es sich um diese Dinge handelt ?"
— „Ja, warum nicht ? Unter Umständen ganz
gern . . .," und dabei denken sie, was die Gattin
dazu sagen würde, wenn die Einladung des Ober-
präsidenten oder der neue Titel ausbliebe.
Rückhaltlos muß es ausgesprochen wer-
den: am Unrecht ist niemand so schuldig
wie das Volk selbst, das aus Indolenz und
Geschäftslust gramlos es duldet; aber ge-
duldetes Unrecht wird nicht zum Recht
und verkannte Gefahr nicht zur Posse.
Von Unrecht und Gefahr aber kauft kein
Opfer uns los.
Völkerkriege und Schicksale werden nicht
vom Willen geschaffen; sie entspringen
Naturgesetzen, die in den Kontrasten des
Bevölkerungsdruckes, der Aktivität, aes
Physikums ihren Ausdruck finden. Doch
über den mechanischen Schicksalsgesetzen
stehen die ethischen und transzendenten.
Wenn innere Kräfte stocken, wenn Formeln,
Sitten und Gedanken sich überleben, so
ergreift ein äußeres Geschick das Wort und
die Führung. Nicht äußere Verhältnisse
und politische Konstellationen, sondern
innere Gesetze, sittliche und transzendente
262
Notwendigkeiten führen mit Gewalt unser
Schicksal herbei. Unser zähes Volk ist mit
dem gleichen Mittel erzogen worden, mit
dem es seine Kinder zu erziehen liebt, mit
Schlägen. Früher hat der Trotz der Herr-
schenden die Schicksalsschläge herbeige-
zogen, nun gesellt ^ich zu diesem Trotji die
Indolenz des Landes, das nicht um seine
Verantwortungen kämpfen will und daher
um seine Sicherheit wird kämpfen müssen.
Tritt aber die Schicksalsstunde heran, so
wird man begreifen, daß alle Unternehmung
ein Spiel der Winde bleibt, wenn sie nicht
in der Tiefe auf doppelt gefestigtem Funda-
ment beruht: auf starker Politik und ge-
rechter Verfassung. Die Leidenschaft, die
heute deninteressen des materiell enLebens
frönt, wird dannderSorgeumdieDingeder
Gemeinschaft und des Staates weichen, und
zugleich mit der Erschütterung des über-
reichen Gebäudes unser er Wir tschaft werden
morsche Rechte undMächtedahinsinken. In
einer Stunde stürzt, was auf Äonen gesichert
galt;was heut vermessene Forderungscheint,
wird selbstverständliche Voraussetzung. In
solcher Zeit der echtenOpfer und der wah-
ren Entäußerung verschmelzen die Mächte
des Volkes, der Verwaltung undderKronezu
engerer Einheit und verjüngter Kraft: sei
es im Dienste der Abwehr, des Ansturms
oder der Vergeltung. Bis dahin aber mögen
wir das Jahr 1813 feiern und des Jahres 1806
gedenken. 1913
263
DEUTSCHE GEFAHREN UND NEUE ZIELE
Ein Engländer, der in einer wohlgemuten Schrift
alle Ursache, Berechtigung und Möglichkeit
künftiger Kriege abtut, und, wie zu erwarten war,
mehrere hunderttausend Leser fand, verbreitet sich
eingehend über die wirtschaftliche Wertlosigkeit
aller Kolonien für ihre Mutterländer; und da ihm
schließlich die Frage auf den Hals rückt, warum
denn Großbritannien so eifersüchtig an den seinen
festhalte, so bleibt ihm der humoristische Aus-
weg der Empfindungsargumente.
In einem gesättigten Lande, das im Drange seiner
guten Geschäfte jeden Aufblick vermeidet, kann
es geschehen, daß solche Beschwichtigungen ernst
genommen werden; deshalb verlohnt es sich, von
Zeit zu Zeit eine ernstere Frage an das wirtschaft-
liche Gewissen zu stellen.
Deutschlands Einfuhr beläuft sich auf jährlich
10 Milliarden. Das ist kein willkürliches Geschäft,
das sich abstellen oder einschränken ließe; denn
eine Bevölkerung von 65 Millionen braucht Nah-
rungsstoffe und Rohprodukte, und was sie nicht
im Lande findet, das muß sie kaufen. Was sie aber
kauft, muß sie bezahlen.
Ein Privatmann zahlt in Geld; eine Nation zahlt
in Waren. Wollte Deutschland seine Einfuhr in
Gold bezahlen, so würde schon in den ersten sechs
Monaten das letzte Goldstück das Land verlassen
haben, und wenige Wochen später wäre die letzte
Silber-, Nickel- und Kupfermünze ausgegeben.
Unsere Rechnungszahlung heißt somit Ausfuhr;
wir exportieren Erzeugnisse unserer Arbeit, um
Nahrungsmittel und Rohstoffe kaufen zu können;
wir sind ein Lohnarbeiter unter den Völkern. Des-
halb ist es sinnlos, mit verächtlicher Betonung von
267
unserer Exportindustrie zu reden, wie es von
agrarischen Rednern zuzeiten geschah; wir ex-
portieren nicht aus Willkür, sondern aus Not-
wendigkeit.
Wer mit Waren handelt, unterliegt einer dop-
pelten Gefahr: wenn er zu teuer kaufen muß, und
wenn er zu billig verkaufen muß, geht er zugrunde.
Wenn die Welt unsere Waren nicht mehr haben
will oder sie uns unter dem Wert abnimmt, so ist
es, als ob wir keine oder eine entwertete Münze
zum Zahlen hätten; wir sind beim Kauf übervor-
teilt und können überdies nicht zahlen. Wenn die
Welt uns das, was wir nötig brauchen, widerwillig
und verteuert liefert, so werden wir konkurrenz-
unfähig, wir setzen beim Verkaufe zu, auch wenn
man uns die Ware wertgerecht abnimmt, und unsere
Wirtschaft ist vernichtet. Unsere gewaltige Eisen-
industrie lebt heute großenteils von fremdem Erz.
Wird uns die Erzeinfuhr durch fremde Ausfuhr-
zölle oder die Stahlausfuhr durch fremde Schutz-
zölle unterbunden, so ist unser stärkstes Fabrik-
gewerbe untergraben.
Nordamerika ist im Sinne der Materialbeschaf-
fung heute das glücklichste Land, denn es findet
fast alle Rohstoffe in seinem Schöße; Deutschland
ist im Verhältnis zur Ausdehnung seiner Industrie
das unglücklichste. Je mehr die Industrie zur Welt-
wirtschaft neigt, je mehr die fernsten Küsten zum
Markt der Rohstoffe beitragen müssen, desto ge-
fährlicher wird die Geringfügigkeit unseres Anteils
am Landbesitz der Welt.
In frühem Zeiten glaubte man, Kolonien seien
nützlich als Tributstaaten oder als Abladestätten
der Übervölkerung oder als Absatzgebiete. Heute
268
erkennen wir, daß sie meist mehr kosten als bringen,
daß Auswanderung unerwünscht ist, und daß kolo-
nialer Absatz umstritten ist, wie jeder andere Ab-
satz; deshalb sind wir leicht geneigt, wie jener
Engländer, den Wert überseeischen Besitzes zu un-
terschätzen. Bald werden wir erkennen, daß jedes
Stück der Erde als Substanz wertvoll ist; denn auch
das geringste besitzt oder erzeugt irgendein Roh-
material ; und ist es nicht das unmittelbar verwend-
bare, so dient es zum Austausch.
Die letzten hundert Jahre bedeuteten die
Aufteilung der Welt. Wehe uns, daß wir so
gut wie nichts genommen und bekommen
haben! Nicht politischerEhrgeiz und nicht
theoretischer Imperialismus rufen diese
Klage aus, sondern beginnende wirtschaft-
licheErkenntnis. DieZeit naht eilendheran,
in der die natürlichen Stoffe nicht mehr
wie heute willige Marktprodukte, sondern
heiß umstrittene Vorzugsgüter bedeuten;
Erzlager werden eines Tages mehr gelten
als Panzerkreuzer, die aus ihren Gängen
geschmiedet werden.
Schon heute wäre die Hoffnung irrig, als könnten
fremde Kolonien uns so gut bedienen wie eigene;
als könnten Deutsche in Marokko so gut Bergbau
treiben wie Franzosen. Jeder Kenner auswärtiger
Industrien weiß, was fremde Landesaufsicht, fremde
Gesetzgebung, fremde Transportbahnen, Häfen,
Finanzen und Konkurrenzen bewirken und verhin-
dern können. Wir werden Käufer bleiben statt
Produzenten eigenen Rechts zu sein, und es wird
kaum einer Periode künftiger Exportzölle bedürfen,
um uns diese Schwäche fühlbar zu machen, sobald
269
die steigende Konsumkraft der Welt beginnt, die
ersten Rohstoffe einzuengen.
SeitBismarcks Scheiden betreibtDeutsch-
land nicht mehr aktive auswärtige Politik,
weil Preußen nicht von staatsgeschäft-
lichen Talenten, sondern von verdienst-
vollen Beamten geführt wird, und weil
das Volk, im Gewinnen befangen, seine
Staatssorgen nicht ernst nimmt. Wir be-
mühen uns, der Welt klarzumachen, daß
wir gesättigt sind, daß wir keine Wünsche
haben, und je mehr wir reden, desto mehr
mißtraut man uns und schiebt uns ver-
wegene Pläne unter, weil man nicht be-
greifen kann, daß wir unsere eigene Not-
durft und unser eigenes Begehren nicht
kennen. Es wird Zeit, daß wir es kennen-
lernen und daß wir unumwunden bekennen
und aussprechen: ja, es ist wahr, wir haben
Nöte und Bedürfnisse. Wir können nicht
in einem Menschenalter hundert Millionen
Deutsche mit den Produkten einer halben
Million Quadratkilometer einheimischen
Bodens und einer afrikanischen Parzelle er-
nähren und beschäftigen, und wir wollen
nicht der Gnade des Weltmarktes anheim-
fallen. Wir brauchen Land dieser Erde.
Wir wollen keinem Kulturstaat das seine
nehmen, aber von künftigen Aufteilungen
muß uns so lange das nötige zufallen, bis
wir annähernd so wie unsere Nachbarn
gesättigt sind, die weit weniger Hände
und unendlich mehr natürliche Güter
haben.
270
Auf diese Sprache kann nichts erwidert
werden, denn das Argument der Rohstoffe
ist unwiderleglich wahr. Gelingt es uns,
glaubhaft zu machen, daß wir unsereNach-
barn nicht expropriieren wollen — und von
unserer Friedensliebe dürfte man nachge-
rade bis zu den Eskimos überzeugt sein —
so erwächst den Kulturnationen die ernste,
wohlverstandene, eigene Sorge, uns aus
einer Verlegenheit zu helfen, die ungestillt
zu einer dauernden europäischen Gefahr
werden müßte. Es ist einfach unmöglich,
daß man uns fernerhin von allen Geschäften
mit jenem Sarkasmus ausschließt, der nicht
unberechtigt war, solange wir uns in soge-
nanntemDesinteressement nicht genugtun
konnten.
Zu den künftigen nützlichen Unterhaltungen in
dieser Richtung, die vor allem mit England zu
führen sind, gehört ein Gegenstand, der nur schein-
bar abseits von diesen Erwägungen liegt, und ver-
schiedenen europäischen Nationen gleichmäßig
nahegeht: er betrifft das beispiellose Kuriosum der
internationalen Politik, die Monroedoktrin. Eine
mißverstandene Präsidentenbotschaft sperrt nach
hundert Jahren ohne Gegenleistung und ohne
Gegenpflicht einen Südkontinent zugunsten nord-
amerikanischer Einwirkung, während es den Ver-
einigten Staaten gestattet bleibt, sich in aller Welt
festzusetzen. An die Stelle dieser engen Kasuistik
muß in gegebener Zeit die wirtschaftlich notwen-
dige und gerechtfertigte Lehre treten: daß kein
Territorium der Erde von einer Macht dauernd
und selbständig sequestriert werden darf, die nicht
271
imstande ist, seine Boden- und Oberflächenschätze
im Dienst der Allgemeinheit nutzbar zu machen.
Die Erde ist nicht groß und nicht reich genug, um
den Luxus selbständiger Halbzivilisationen auf
Kosten der Wcltproduktion zu gestatten.
Aber wie dem auch sei; selbst wenn eine
künftige Zeit, eine glücklichere Politik
und ein klareres Erkennen uns einen ge-
rechteren Anteil an der Erbschaft der Welt
gewährt als unser jetziger Pflichtanspruch:
die Zeit der großen Erwerbungen ist für
Deutschland verpaßt. Da wir eine gewalt-
same Neuverteilung der Lose nicht erseh-
nen dürfen, so müssen wir mit dem Ge-
danken rechnen, daß wir auf absehbare Zeit
und in weitem Umfang eine zwangsweise
kaufende und notgedrungen handelndeNa-
tion bleiben.
So besteht die Verdopplung der Gefahr: neben
der Erschwerung des Kaufs die Erschwerung der
Zahlung, die Entwertung des Zahlungsmittels, des
Ausfuhrguts.
Mit Ausnahme von England, das in glänzender
Isolation die Irrtümer der Jahrhunderte zu über-
dauern pflegt, frönen alle Wirtschaftsstaaten dem
Hochzoll. Das Prinzip der Warenhemmung, das
in Form der Binnenzölle vernichtet werden mußte,
um vor hundert Jahren den Landeswirtschaften
Raum zu schaffen, beherrscht heute die Weltwirt-
schaft. Wenn der Deutsche dreimal so billig
Strümpfe wirken kann wie der Amerikaner, wenn
der Amerikaner dreimal so billig Strohhüte flechten
kann wie der Deutsche, so muß dennoch jeder in
seinem Lande beide Produkte herstellen; ihr Aus-
272
tausch ist zoUteclmisch verboten. In dem Sinne,
daß die Welt ein Interesse daran hat, jede Ware
dort machen zu lassen, wo sie mit dem geringsten
Aufwand an Arbeit in vollkommenster Ausführung er-
zeugt werden kann, sind Phöniker und Zentralafrika-
ner uns an wirtschaftlicher Erkenntnis überlegen.
Eine Periode des Schutzzolls war für die Jüngern
Wirtschaftsländer nötig; in einzelnen, vor allem in
Amerika nach der Gesetzgebung Mc Kinleys, hat
sie Wunder gewirkt. Mit Recht hat man diese
Wirkung dem Schutz der Treibhausscheiben ver-
glichen : die zarte Pflanze erstarkt, der Baum sprengt
die Enge. Unsere Industrie entwächst von Tag zu
Tag dem Bedürfnis des Schutzes: aber in dem
Maße, wie sie nach außen wirken will, wird ihr
fühlbar, daß nicht sie allein aus dem Mittel der
Hegung Nutzen zog.
Von uns und Amerika haben die Völker gelernt;
Zollmauern sind längs jeder Landesgrenze getürmt
und erhöhen sich alljährlich, und im Innern der
Staaten werden nationalistische Kräfte in den
Dienst des Geschäftes gezogen, um den letzten
Zufluß von Auslandsgütern abzudämmen.
Von allgemeiner Ungeübtheit im wirtschaftlichen
Denken zeugt die häufige Behauptung: der Zoll
werde vom Käufer getragen. Das geschieht nur
insoweit, als die Inlandsware des Käufers in ihrer
Herstellung teurer ist als der Auslandspreis. So
werden unsere Landwirtschaftsprodukte tatsächlich
nahezu um den vollen Zoll verteuert; die meisten
Industrialprodukte dagegen haben mit einer aus-
gebildeten Erzeugung des Einfuhrlandes zu kon-
kurrieren, die nicht gestattet, auch nur einen Teil
des Zolls aufzuschlagen.
I. i8
273
Dieser friedliche Krieg derNationen bie-
tet der Zukunft Deutschlands schwerere
Gefahren als irgendeine Waffendrohung.
Er entwertet unser Zahlungsmittel, er
zwingt uns auf die Dauer, teuer zu kaufen
und billig zu verkaufen, und somit unent-
geltliche Arbeit für das Ausland zu leisten.
Es ist kein Zweifel, daß unsere Gegner
Kenntnis dieserLage haben, denn sie unter-
stützen jede nationalistische Importhetze
und verengern so das Netz der wirtschaft-
lichen Einkreisung, nachdem die politische
Einkreisung zur Unzerreißbarkeit gediehen
ist. Um so weniger würden sie erstaunt
sein, wenn wir es wagten, die Lage anzu-
erkennen und durch gerechte Ansprüche
ihre Folgerungen zu ziehen.
Es ist weder durchführbar noch wünschenswert,
daß wir zum sogenannten Freihandel zurückkehren;
vor allem können und dürfen wir nicht ohne Gegen-
seitigkeit der Leistung uns zolltechnisch entblößen.
Aber die Blütezeit der Hochzölle ist in der Welt
vorüber; das werden über lang oder kurz alle wirt-
schaftlich tätigen Nationen empfinden. Ein Abbau
der Mauern wird geschehen, sonst fallen alle Vor-
teile dem Lande zu, das nichts zu kaufen und nichts
zu zahlen braucht: Amerika.
Ein schweres Hemmnis wird die Tendenz der
freiem Bewegung in Deutschland finden, denn hier
ist das Gebäude des Hochzolls in der Agrarpolitik
verankert, die gleichzeitig eine der Grundlagen des
preußischen Feudalismus bildet.
Man geht bei uns von der Ansicht aus, daß der
hegemonische Staat die Kräfte seiner Führung und
274
Verteidigung nur aus den Schichten des Grund-
besitzes ziehen könne, und stellt sich daher die Auf-
gabe, den landwirtschaftlichen Großbetrieb, der in
seiner heutigen Konstituierung und Belastung mit
der Weltkonkurrenz nicht Schritt halten kann, auf
gesetzgeberischem Wege seinen Besitzern zu erhal-
ten. Dies geschieht durch eine weitgreifende Zoll-
und Einfuhrregelung, die sich auf alle Agrarprodukte
erstreckt, und manche um nicht viel weniger als die
Hälfte des Auslandpreises belastet.
Der Zweck ist für den Augenblick erreicht. Die
Einkommen der Großwirtschaft haben sich gewaltig
gehoben, der Wert vieler Güter hat sich innerhalb
zweier Jahrzehnte verdoppelt, die Durchschnitts-
verzinsung, auf den Wert der sechziger Jahre be-
zogen, beläuft sich auf mindestens zehn bis zwölf
Prozent, während die Erwerber industrieller Werte
seit jedem beliebigen Zeitpunkt innerhalb dieser
Periode eine Rente von höchstens acht Prozent im
Durchschnitt erlangt haben, die sich materiell noch
reduziert, wenn alle Aktienemissionen über Nenn-
wert in Rechnung gezogen werden.
Der Zweck ist erreicht, für den Augenblick.
Denn der Mehrertrag wird kapitalisiert; die Le-
bensführung, der Erbanspruch und die Belastung
schließen sich dem Mehrwert an. Noch bevor ein
Menschenalter vergeht, werden wiederum die Land-
wirte über geringes Erträgnis und hohe Zinsen-
lasten klagen, nachdem sie sich mit der Wert-
steigerung des Bodens stillschweigend abgefunden
haben.
So steht der Gefahr der wirtschaftlichen Er-
stickung ein Hochzollsystem zur Seite, das in den
Interessen des Großgrundbesitzes, somit in der
i8«
275
mächtigsten Quader des preußischen Regierungs-
baus verankert ist. An einer Gesetzgebung, die
ihren Urhebern Kopf für Kopf Renten von Tau-
senden, Zehntausenden und Hunderttausenden be-
deutet, ist nicht zu rühren. Mithin ist, selbst für
den Fall, daß der Abbau der industrialen Hoch-
zölle sich allmählich vollzieht, eine wirtschaft-
liche Freundschaft mit allen Ländern überwiegen-
den Agrarexportes in absehbaren Zeiten ausge-
schlossen.
Es bleibt eine letzte Möglichkeit: die Er-
strebung eines mitteleuropäischen Zoll-
vereins, dem sich wohl oder übel, über
lang oder kurz die westlichen Staaten an-
schließen würden. Früher als wir, beginnen
einzelne unserer Nachbarstaaten, die nicht
über unsern gewaltigen Binnenkonsu m ver-
fügen, die Unbilden der wirtschaftlichen
Isolation zu spüren. Ihre Industrien fristen
ihr Dasein auf der engen Grundlage natio-
naler Syndikate, die sich durch Preisver-
teuerung im Inland für den Mangel an Aus-
dehnungskraft und selbständiger techni-
scher Entwicklung entschädigen. Die in-
dustrielle Zukunft gehört der schöpfe-
rischen Technik, und schöpferisch kann sie
nur da sich betätigen, wo sie unter frischem
Zuströmen menschlicher und wirtschaft-
licher Kräfte sich dauernd im Wachstum er-
neu e r t. So wie die einstmals vorbildliche Maschinen-
industrie der Schweiz die Führung an die Länder
großem Konsums abtreten mußte, so folgen heute
zahlreiche Industrien der deutschen Vormacht;
aber wir werden dieser Erbschaften nicht froh;
276
auch uns wäre es besser, wenn wir manche Natur-
kraft, manche begünstigte Produktionsstätte und
manchen unerschlossnen Verbrauchskreis unsrer
Nachbarschaft in das Netz einer allgemeinen Wirt-
schaft einbeziehen dürften.
Die Aufgabe, den Ländern unserer europäischen
Zone die wirtschaftliche Freizügigkeit zu schaffen,
ist schwer; unlösbar ist sie nicht. Handelsgcsetz-
gebungen sind auszugleichen, Syndikate zu ent-
schädigen, für fiskalische Zolleinnahmen ist Auf-
teilung und für ihre Ausfälle Ersatz zu schaffen;
aber das Ziel würde eine wirtschaftliche Einheit
schaffen, die der amerikanischen ebenbürtig, viel-
leicht überlegen wäre, und innerhalb des Bandes
würde es zurückgebliebene, stockende und unpro-
duktive Landesteile nicht mehr geben.
Gleichzeitig aber wäre dem nationalis-
tischen Haß der Nationen der schärfste
Stachel genommen. Denn wenn man sich
fragt, warum die Staaten zur Erbitterung
ihrer VVettkämpfe getrieben werden, war-
um sie sich Kräfte, Rechte, Bündnisse und
Besitztümer neiden, warum das Glück des
einen der Schaden des andern ist; es sind
längst nicht mehr Religionen, Sprachen,
Kulturen und Verfassungen, die sie ent-
fremden. Kulturformen und Zi vilisationen
vereinigen sich friedlich innerhalb aller
bekannten Landesgrenzen; Verfassungen
lösen sich ab und hinterlassen leichtbe-
sänftigte Spuren. VV^as dem Engländer un-
möglich macht, in Deutschland heimisch
zu werden, was dem Deutschen einen
längern Aufenthalt in Frankreich verleidet,
277
sind Formen niederer Verwaltungspraxis,
Polizei-, Sttuer- und Aufsichtsfragen.
Was aber die Nationen hindert, einander
zu vertrauen, sich aufeinander zu stützen,
ihre Besitztümer und Kräfte wechselweise
mitzuteilen und zu genießen, sind nur mit-
telbar Fragen der Macht, des Imperialis-
mus und der Expansion: im Kerne sind es
Fragen der Wirtschaft. Verschmilzt die
Wirtschaft Europas zur Gemeinschaft, und
das wird früher geschehen als wir denken,
so verschmilzt auch die Politik. Das ist
nicht der Weltfriede, nicht die Abrüstung
und nicht die Erschlaffung, aber es ist Mil-
derung der Konflikte, Kräfteersparnis und
solidarische Zivilisation.
1913
278
1813
EIN FESTGESANG ZUR
JAHRHUNDERTFEIER
BEDRÜCKUNG
Die Stimme des Propheten
Uu Menschenkind, so spricht der Herr: das Ende
kommt, das Ende über alle vier Örter des Landes.
Das Ende kommt, es kommt das Ende, es ist er-
wacht über dich, siehe: es kommt.
Hesckiel, 7, 2.
Die Stimme der Not
Brecht auf, ihr Herzen, ungewohnt, zu klagen,
Ihr Stirnen, lernt euch neigen,
Ihr Knie, lernt in Staub euch beugen,
Lernt, stolze Schultern, Joch und Lasten tragen.
Zu frecher Jugend schielt empor, ihr Alten!
Die einst so flink im Flüchten,
Sie halten euch in Knechteszüchten,
Um königlich auf eurem Erb zu schalten.
Errötet eures Wortes und Gewandes,
Übt kauderwelsche Bitten,
Liebt fremde Ehre, fremd Gesetz und Sitten,
Vergeßt den Namen eures Vaterlandes.
283
Die Stimme des Grams
Tages unbarmherzige Sonnen
Schütteln ihre Feuerbrände,
Ginge alles Licht zu Ende,
Blieb uns ewige Nacht gewonnen.
Nacht des ruhelosen Schlummers,
Jammer schreitet durch die Gassen,
Nacht durchzuckt von Feindes Prassen,
Dämmrung schreckcrwachten Kummers.
Blasses, übernächtiges Sehnen,
Menschen bitte, nichtige Worte,
Schließt sich des Gebetes Pforte,
öffnet sich das Tor der Tränen.
284
Die Stimme der Verzweiflung
Du harter Gott, der vom metallnen Turme
Das All bewachst,
Der trunken von des Schaffens Wirbelsturme
Des Fleisches lachst,
Wir Knechtsvolk dienten deiner Himmelsehre
Ach, allzugern;
Sie stampften lästernd deine Hochaltäre
Und sind die Herrn.
Hast du dem eitlen Cäsar, uns zu richten,
Dein Schwert verliehn ?
O laß durch deinen Donner uns vernichten,
Doch nicht durch ihn.
Geschändet stirbt dein Volk. Und keine Spende
Des Himmelsborns
Verwäscht die Schmach. Vollende, Herr, vollende
Das Werk des Zorns.
285
Die Stimme der Rache
Vom Schwerte gerichtet,
Geblendet, vernichtet.
An Felsen geschmiedet, verblutet die Kraft,
Die andern im Glänze
Erproben im Tanze
Die schmeidigen Glieder, vom Siege gestrafft.
Empor nun zu Göttern,
Gerechtesten Rettern
Die Zeugen der Unbill, des Frevels und Mords :
Ihr blutigen Splitter,
Ihr Tränen der Mütter,
Zerreißet den Frieden des himmlischen Orts.
Cheruben erbleichen,
Gestirne entweichen;
Das Haupt in blauendes Düster gehüllt.
Sitzt schweigend der Zeuger,
Titanenkraftbeuger,
Bis Stunde und Urteil und Schicksal sich füllt.
Der Stundenpfeil steiget.
Die Schale sich neiget,
Trompeten erzittern, schon reckt sich der Strahl;
Zerflattert, ihr Schleier,
Das Heer der Befreier,
Es stürzet und wettert und donnert zu Tal.
286
Die Stimme des Schicksals
Erbarmen nicht noch Göttergunst noch Bitten
Versöhnen dein Geschick;
Uralter Stempel, aus Demant geschnitten,
Prägt Leid und Glück.
Wie lange trübt der dunkle Quell der Trauer,
Der Lust den Lebensstrom ?
Nur Dumpfheit malt auf leere Nebelmauer
Ihr Schreckphantom.
Getrost hinab die innertiefen Schächte,
Von Finsternis geschwellt;
Im IVIittelpunkt vermählen sich die Mächte :
Recht, Wille, Welt.
287
II.
ERLÖSUNG
Die Stimme des Propheten
Oo spricht der Herr: ich will euch ein neu Herz
und einen neuen Geist in euch geben und will das
steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und
euch ein fleischern Herz geben.
Hcsekiel, 36, 26.
1, 19
Die Stimme der Reue
Mensch, gedenke deiner höchsten Stunde,
Heiße alle Erdenstimmen schweigen,
Blicke einwärts, gib dem Gotte Kunde!
Mensch, bedenke! Nichts ist dir zu eigen
Als der einige kristallne Spiegel;
Wehe ! Wessen Antlitz wird er zeigen ?
Mensch! Vom Herzen lösen sich die Siegel
Und Pandorens wirbelnde Gestalten
öffnen ihre schillerbunten Flügel.
Mensch! Des trügerischen Schleiers Falten
Hüllen dir den Blick mit Eitelkeiten,
Bergen dir der Gottheit ruhend Walten.
Mensch! Vernimm des Geisterreiches Schreiten!
Mensch! Vernimm des Paraklets Befehle!
Mensch! Laß Mut und Furcht und Hoffnung
gleiten!
Mensch, o Mensch, gedenke deiner Seele!
19» ^ 291
Die Stimme des Opfers
Durch des Sommers Sternennächte
Lasset Feuer:'ungen schießen,
Daß der Götter VVeihestätte,
Heiliger Gipfel Waldeskette,
Freiheitsdämmrung zu begrüßen,
Sich zum Sternenkranze flechte.
Flammender Opferbrand,
Lautre mein Vaterland.
Himmelan, du dunkle Säule,
Spende deine Weihrauchdüfte,
Scheuche, Glut von reiner Klippe,
Lügengeister, Teufelssippe,
Saubre Felder, kläre Lüfte,
Töte Pestilenz und Fäule
Flammender Opferbrand,
Weihe mein Vaterland.
Tilge, Flamme, was uns zehrte,
Spieltand, den uns Sklaven preisen,
Friß Damaste und Geschmeide,
Hoher Frauen Opferfreude,
Brenne Gold und gib uns Eisen,
Wir genesen nur am Schwerte.
Flammender Opferbrand,
Rette mein Vaterland.
An der Glut der Eichenstämme
Zündet Fackeln, schwingt die Gluten!
Nie mehr, Männer, Knaben, schwört es.
Darf ein Feind, der Rächer hört es.
Hochmutschwellend überfluten
Deutscher Grenzen heilige Dämme.
Flammender Opferbrand,
Schütze mein Vaterland.
292
Die Stimme der Sehnsucht
Blond und stahlblau Korn und Lüfte,
Himmelaugen heiliger Seen,
Dunkler Kiefern Waldesgrüfte,
Blasser Dünen Schaumes wehen,
Harter Boden, harte Herzen!
Mag der Feind sich Sieger wähnen,
Nie gelingt ihm, auszumerzen
Ahnensaat von Blut und Tränen.
Mag der Feind dich frech betreten,
Adler hissen auf den Zinnen
Über schmachbedeckten Städten:
Nimmer wird er dich gewinnen.
Mußte sich der Mund verschließen,
Daß das Herz umpanzert bliebe.
Endlich darf es überfließen:
Land, mein Land, du meine Liebe!
293
Die Stimme der Königin
Ihr zerbrochnen Mutterherzen,
Die am Kreuzesstamme schauert,
Schwestern tiefster Liebesschmerzen,
Die ihr um die Knechtschaft trauert.
Junge Seelen, leidgeboren,
Heimatfremd in bangen Tagen,
Kommt zu mir, die auserkoren,
Dreifach euren Gram zu tragen.
Laßt uns treu dem Gotte danken,
Der uns höchstes Recht gewährte.
Der aus dumpfer Kleinheit Schranken
Uns durch Marterglück verklärte.
Ja, mit Recht sind wir geschlagen,
Selbstsucht darf die Welt betören,
Wenn die Besten uns verzagen;
Doch die Willkür kann nicht währen.
Gott folgt ewigen Gesetzen.
Mochten Cäsars Friedenslügen
Väterbrauch und Recht verletzen;
Keine Erdmacht konnte fügen,
Daß das Wort sich nicht erfüllte:
Demut nur soll Herrschaft erben.
Da mir solches Gott enthüllte,
Durfte ich getröstet sterben.
294
III.
ERHEBUNG
Die Stimme des Propheten
1 röstet, tröstet mein Volk! spricht euer Gott.
Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, daß
sie auffahren mit Flügeln wie Adler, daß sie laufen
und nicht müde werden, daß sie wandeln und nicht
ermatten.
Jesaias, 40.
Die Stimme des Gebets
Unser Vater, Gott der Höhen,
Lenker aller Himmelsheere,
Siehe Tausend vor dir stehen
Hart gewaffnet, dir zur Ehre.
Gib, daß nicht uns Haß und Rache,
Menschenfurcht uns nicht entzweie,
Gib, daß deine Gottessache
Unberührte Seelen weihe.
Jeder Strahl aus deinen Sonnen
Klingt in unsrer Herzen Stille,
Alle Wünsche sind zerronnen.
In uns atmet nur dein Wille.
Gib, daß deines Himmels Feuer
Falschheit, Wust und Dunst zerstiebe;
Härte uns, du Blitzestreuer,
In dem Feuer deiner Liebe.
Nicht, um Römerglück zu werben.
Siehst du unsre Heere schreiten:
Laß uns siegen, laß uns sterben.
Dein der Kranz der Ewigkeiten.
297
Die Stimme der Jugend
Standarten und Spiele,
Wie blitzen die Höhn!
Der Herbstwind wie kühle,
Der Morgen wie schön!
Ihr Brüder, uns bindet
Ein königlich Band,
Das Nichtige schwindet.
Wir schützen das Land.
Wie wuchsen im Frieden
Wir träge heran !
Gefahren, sie schmieden
Den Knaben zum Mann.
Nun brausen die Wälder
Dem feurigen Bund,
Bald dampfen die Felder,
Bald donnert der Grund.
Frischauf! Wenn die zweite
Der Sonnen erwacht,
Sie leuchtet dem Streite,
Der herrlichen Schlacht.
Und kauert in Gräben
Und lauert der Tod,
Sprüht Freiheit und Leben
Aus funkelndem Rot.
298
Die Stimme des Donners
Im Donner stürzt das Schöpferwort zur Erde,
Das Weltall atmet schwer;
Durch Wirbel zuckt der Flammenruf: Es werde!
Das Chaos ist nicht mehr.
Schon schwingen sich zum Feuerkranz die Sonnen
In Weißglutpracht,
In Schattentälern ist der Tag zerronnen,
Es blaut die Nacht.
Gewaltge Spannung bannt die Firmamente,
Es sprüht der Streit,
Urewiges Hassen sträubt die Elemente,
Die Windsbraut schreit.
Da kracht die Feste, flammt die Atmosphäre,
Der i\bgrund stöhnt,
Zurück die Welt ins Chaos und ins Leere!
Und Satan höhnt.
Nun brechen blutige Segensströme nieder
Aus Götterbrust,
Aus höchstem Opfer trinken Welten wieder
Sich Werdens Lust.
Im Rosenlicht verklärt, der Himmelsbogen
Besiegt die Nacht;
Der Heros stürmt, vom Glanz emporgezogen:
Es ist vollbracht.
299
Vox coelestis
Gloria in Excelsis Deo et in terra pax hominibus
bonae voluntatis. Amen.
1913
EIN WORT ZUR LAGE
Sechs Mächte verabscheuen und fürchten den
Weltkrieg und wissen dennoch nicht, wie sie
sich seiner erwehren sollen.
Vier von diesen Mächten sind sachlich an der
Streitfrage uninteressiert; zwei haben ein Interesse.
Man mag über den panslawistischen Anspruch
denken wie man will, Rußland ist von Serbien als
slawische Vormacht bisher anerkannt worden, es
verliert diese Stellung, wenn es seinen Schützling
in der Gefahr aufgibt.
Das österreichische Interesse besteht, denn der
Krieg gegen Serbien hat begonnen. Ob ein Krieg
die Kraft hat, chauvinistische Wühlerei im besieg-
ten Lande verstummen zu lassen, kann nach unsern
Erfahrungen mit Frankreich bezweifelt werden;
aber diese P'rage steht nicht mehr zur Erörterung,
wenigstens nicht bei uns.
Zwischen Österreich und Rußland bestehen Ver-
handlungen, von denen der Weltfriede heute ab-
hängt. Österreich hat durchblicken lassen, daß der
Landbesitz Serbiens nicht versehrt werden soll.
Will man die politische Unabhängigkeit des Landes
vernichten ? Dann würde Rußlands tatsächliche
Machtsphäre verringert, und der Krieg wäre schwer
vermeidbar.
Das Fortbestehen der Verhandlungen läßt ver-
muten, daß Österreichs Absicht so weit nicht geht.
Es scheint sich um Forderungen zu handeln, die
der Gedankenreihe des Ultimatums entsprechen.
Die Reichsregierung hat keinen Zweifel zuge-
lassen, daß Deutschland unerschütterlich seiner
alten Bündnistreue folgt. Ohne den Schutz
dieser Treue konnte Österreich seinen
Schritt nicht wagen. Deutschlands Regie-
1, 20 305
rung und Volk haben den Anspruch, zu wis-
sen, welche Wünsche Rußland ausspricht
und Österreich ablehnt. Eine Frage, wie
etwa die, ob österreichische Kommissare
bei den serbischen Umtriebsermittlungen
mitzuwirken haben, ist keinAnlaß für einen
Völkerkrieg. Die Politik Metternichs, in allen
erreichbaren Staaten Überwachungskommissionen
unter österreichischer Führung gegen Umtriebs-
gefahr einzusetzen, gehört der Vergangenheit an
und kann auch in der Monarchie nicht mehr beliebt
werden.
Verlangt dagegen Rußland das Arbitrium über
die Entschlüsse einer Dreibundsmacht, sich bei be-
nachbarten Nationen ihr Recht zu holen, so ist ein
politisch unerträglicher Weltzustand geschaffen,
der uns das Recht und die Pflicht gibt, an Öster-
reichs Seite für ein würdiges Ziel zu fechten.
Geschrieben am 29., veröffentlicht am 31. Juli 1914.
306
INHALT
ZUR KRITIK DER ZEIT 7
MAHNUNG UND WARNUNG 149
1908 Über Englands gegenwärtige Lage . . 151
191 1 Politik, Humor und Abrüstung .... 171
Staat und Judentum 183
1912 England und wir 209
Politische Auslese 221
19 13 Parlamentarismus 233
Eumenidenopfer 251
Deutsche Gefahren 265
1813 279
1914 Zur Lage 303
Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig
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